Rezension über:

Andrea Brait / Michael Gehler (Hgg.): Grenzöffnung 1989. Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg; Bd. 49), Wien: Böhlau 2014, 544 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-205-79496-7, EUR 79,00
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Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Andrea Brait / Michael Gehler (Hgg.): Grenzöffnung 1989. Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich, Wien: Böhlau 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/01/26805.html


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Andrea Brait / Michael Gehler (Hgg.): Grenzöffnung 1989

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Das Jahr 1989 war nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa ein Wendepunkt. Dies gilt auch für den südöstlichen Nachbarn Deutschlands, die Republik Österreich. Hier kam zweierlei zusammen: zum einen die direkte oder indirekte Betroffenheit durch die Ereignisse von 1989 selbst, angefangen von der Fluchtbewegung aus der DDR, die vor allem über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik führte, bis zu den revolutionären Veränderungen in den östlichen Nachbarstaaten, und zum anderen der österreichische Antrag auf Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft vom selben Jahr. Der Grenzöffnung und Grenzüberwindung sowie deren Auswirkungen auf Österreich widmete sich 2012 eine Tagung in Salzburg, deren Ergebnisse nun in einem umfangreichen, von Michael Gehler und Andrea Brait herausgegebenen Sammelband vorliegen.

Der in sechs Abschnitte gegliederte Band enthält neben einer Einleitung 20 teilweise sehr ausführliche Beiträge sowie die Auswertung einer Umfrage aus dem Jahre 2011, in der es um die Einstellung der Österreicher zur Bedeutung von 1989 im Verhältnis zu anderen Ereignissen ging. Deren wichtigste Ergebnisse waren zum einen, "dass mit '1989' alleine noch keine entscheidenden Veränderungen für Österreich eintraten", und zum anderen, dass die Veränderungen, die sich nach 1989 einstellten, teilweise als Chance für einen größeren Austausch gesehen wurden, teilweise aber auch Ängste auslösten (43).

Der aufschlussreichste Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung von Fritz Breuss untersucht die Auswirkungen der Ostöffnung auf Österreichs Wirtschaft. Österreich, das durch die Ereignisse von 1989 von einer Randlage in das Zentrum Europas rückte, profitierte wirtschaftlich sehr stark von Ostöffnung, EU-Beitritt und EU-Osterweiterung, so dass Breuss insgesamt von einem "große[n] Erfolg" für die österreichische Volkswirtschaft spricht, der sich allerdings nicht gleichmäßig positiv für alle Österreicher ausgewirkt habe (108).

Die an den revolutionären Ereignissen selbst interessierten Historiker werden die sich ergänzenden Beiträge von Michael Gehler, Helmut Wohnout und Maximilian Graf besonders zu schätzen wissen. Gehler untersucht detailliert das deutsch-österreichisch-ungarische Zusammenspiel von 1989 im Zusammenhang mit der ungarischen Grenzöffnung vom 11. September 1989, das er zu Recht als "Katalysator für die Erosion des SED-Regimes" (135) bewertet. In seinem Aufsatz macht er überdies auf eine bisher kaum bekannte Rede Hans-Dietrich Genschers in Wien vom 14. September aufmerksam, in der sich dieser nicht nur für die gute Kooperation bedankte, sondern auch die EG als "Kernelement der heutigen und der zukünftigen Struktur Europas" bezeichnete (154).

Wohnout arbeitet heraus, dass Außenminister Alois Mock (ÖVP) schon 1988 vor dem Hintergrund von Glasnost und Perestroika eine Überwindung der europäischen Teilung für möglich hielt. Mock war dann auch derjenige, der für die Reformbewegungen in Osteuropa immer vehementer Partei ergriff und für den, anders als für die SPÖ, die deutsche Einheit "von Anfang an kein Tabu" war (198). Gleichzeitig war er die treibende Kraft beim österreichischen EG-Beitritt, für den er die bundesdeutsche Unterstützung benötigte; ganz anders verhielt sich die SPÖ unter Bundeskanzler Franz Vranitzky, die "noch dem Neutralitätsdenken der alten Schule" verhaftet war (200). Diese enge Anlehnung an die Bundesrepublik machte sich dann spätestens während der kritischen Phase der Beitrittsverhandlungen im Februar/März 1994 bezahlt.

Obwohl Österreich die Flüchtlingskrise vom Herbst 1989 hautnah zu spüren bekam, erwartete Wien damals noch (laut MfS-Berichterstattung) die Herausbildung eines pluralistischen Gemeinwesens in der DDR unter maßgeblichem Einfluss der SED. Die bedrängte DDR-Führung unter Ministerpräsident Hans Modrow wollte - so Maximilian Graf - ihre guten Beziehungen zu Österreich fortsetzen, und Vranitzky kam dem mit einer Reise nach Ost-Berlin bereits am 24. November entgegen. Der Besuch war einerseits wirtschaftlich motiviert, andererseits war er wohl mit François Mitterrand abgestimmt: Da die Aktenlage dazu noch zu wünschen übrig lässt, bleibt einiges zur Motivlage Wiens noch im Dunkeln. Deutlich ist aber, dass der österreichische Bundeskanzler - anders als sein Außenminister - vor allem an der engen wirtschaftlichen Kooperation mit der DDR festhalten wollte, so dass er noch am 26. Januar 1990 Modrow zu einem Gegenbesuch in Wien empfing. Erst ab Februar/März 1990 passte sich Vranitzky an die geänderten Verhältnisse an, da auch er inzwischen die bundesdeutsche Unterstützung für den österreichischen EG-Beitritt für erforderlich hielt.

In dem Abschnitt zu "Grenzen im Wandel" sind vor allem die Beiträge von Andreas Pudlat zum Problem der Kriminalitätsbekämpfung bei offenen Grenzen sowie von Angela Siebold zu Österreich im "grenzenlosen" Europa erwähnenswert. Pudlat hält zusammenfassend fest, dass der polizeiliche Fokus auf den Grenzraum zu Österreichs östlichen Nachbarstaaten auch "ein Stück weit entlarvend für fortbestehende wertkartographische Denkmuster sowie (Kriminalitäts-)Ängste in der österreichischen Bevölkerung" sei (281). Siebold kommt bei ihrer Untersuchung polnischer und deutscher Pressediskussionen über den österreichischen Schengen-Beitritt zu einem ähnlichen Ergebnis. Neben dem dadurch erreichten "Gewinn an Freiheit und Aussöhnung" nach innen standen "Sorgen vor einem Kontrollverlust [nach außen], die sich vor allem an möglichen neuen Migrationsbewegungen und der Angst vor Sicherheitsverlust festmachten" (300).

Aufmerksamkeit verdienen ebenfalls zwei politikwissenschaftliche Beiträge zur EU-Osterweiterung. Hier unterscheidet Oliver Schwarz das Modell der "konditionalen Krönung", bei dem der Beitrittsstaat erst nach Erreichen bestimmter Standards unter bedingungsloser Akzeptanz des Acquis communautaire aufgenommen werden kann (und an dem sich die Osterweiterung bis 2004 orientierte), von dem der "nachsorgenden Sozialisierung" im Falle Bulgariens und Rumäniens. Hier habe die EU auf Reformbemühungen infolge des EU-Beitritts gesetzt, die laut Schwarz ohne den externen EU-Einfluss "deutlich weniger stark ausgeprägt gewesen wären". Aber wie erfolgreich waren diese Bemühungen wirklich? Auch hier gilt letztlich, dass Papier geduldig ist. Am bedenklichsten ist aber, dass die EU im Falle Kroatiens "auf dieses Instrument der nachträglichen Einflussnahme verzichtet hat" (329). Gunther Hauser wendet sich demgegenüber noch einmal dem Jahr 1989 "aus österreichischer und internationaler sicherheitspolitischer Perspektive" zu (331). Auch in dieser Hinsicht erfolgte 1989 für Österreich ein Paradigmenwechsel, da mit dem Antrag auf Beitritt zur EG auch ein Bekenntnis zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verbunden war und Neutralität neu definiert wurde. Hauser untersucht die neue sicherheitspolitische Umgebung Österreichs, die nun ausschließlich aus unabhängigen, freien Staaten bestand. Dies führte nicht nur zum Beginn einer neuen Nachbarschaftspolitik, sondern hatte auch Konsequenzen in Form illegaler Einwanderungen über die grüne Grenze.

Von den Beiträgen zu Österreichs Politik aus Sicht der Nachbarn sei nur der wichtige Aufsatz Miroslav Kunštáts zum österreichisch-tschechoslowakischen Verhältnis genannt. Dieser zeichnet die "behutsame und limitierte, doch unverkennbare Annäherung" (375) der beiden Staaten seit 1974 nach, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre an Fahrt aufnahm. Die "Systemimplosion des Jahres 1989" habe zwar die bereits vorher angelegten Entwicklungstrends in den bilateralen Beziehungen beschleunigt, der Weg zu einer neuen Partnerschaft habe sich aber "als etwas länger und strapaziöser [erwiesen], als man in der Euphorie der 'friedlichen Revolution' erwartet hatte" (384).

Der letzte Abschnitt des Bandes widmet sich - wie so oft bei derartigen Werken - den kultur- und identitätspolitischen Folgen der Umbrüche und beinhaltet Beiträge von recht unterschiedlichem Niveau. Am gelungensten sind die Ausführungen von Andrea Brait, die danach fragt, inwiefern "1989" in Österreich die Bedeutung eines "lieu de mémoire" beigemessen wurde und ob die Ereignisse "Teil des 'kollektiven Gedächtnisses' geworden sind" (488). Dazu untersucht sie die Anstrengungen, die 1999 und 2009 anlässlich des zehn- bzw. zwanzigjährigen Jubiläums von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern unternommen wurden. Ein Problem dabei war, dass in Österreich kein geographischer Ort für den damaligen Aufbruch steht. Dennoch konstatiert sie, dass es eine Reihe wesentlicher Ansätze in dieser Richtung gab und gibt, die allerdings alle noch von einem nationalen Blick dominiert sind - "die transnationale Perspektive wurde bislang deutlich weniger beachtet" (507). Doch da die Konstruktion solcher Erinnerungsorte ein Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse ist und nicht historiographischen Wunschvorstellungen unterliegt, müssen wir uns wohl damit abfinden.

Insgesamt handelt es sich um einen gewichtigen Band, der zwar die österreichische Sicht auf 1989 in den Mittelpunkt stellt, aber doch weit darüber hinausgeht, denn er richtet den Blick sowohl auf das "annus mirabilis" als auch darüber hinaus und erweitert die Perspektive auf den ostmittel- und südosteuropäischen Raum, der auch für Deutschland immer wichtiger wird.

Hermann Wentker