Karl Christian Führer: Gewerkschaftsmacht und ihre Grenzen. Die ÖTV und ihr Vorsitzender Heinz Kluncker 1964-1982 (= Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung; Bd. 188), Bielefeld: transcript 2017, 649 S., ISBN 978-3-8376-3927-8, EUR 49,99
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Der langjährige Vorsitzende der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Heinz Kluncker, verkörperte in der gängigen Vorstellung den Prototyp des mächtigen Gewerkschafters. Er wird vor allem mit dem Streik im öffentlichen Dienst im Februar 1974 in Verbindung gebracht. Die Gewerkschaft konnte eine zweistellige Einkommenserhöhung durchsetzen, die viele Politiker als völlig überhöht und ökonomisch unsinnig bewerteten. Das vermeintlich rücksichtslose Agieren der ÖTV habe anschließend zum Rücktritt Willy Brandts beigetragen, so die zeitgenössische und bis heute oft wiederholte Einschätzung. Dieser Arbeitskampf machte Kluncker zum Symbol einer angeblich omnipräsenten Gewerkschaftsmacht.
Führer hat nun mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung die erste ausführliche Abhandlung über Kluncker vorgelegt. Es handelt sich jedoch nicht um eine Biographie im engeren Sinne des Wortes. Zwar steht Kluncker im Zentrum der Untersuchung, aber sein Lebensweg und seine Zeit als Vorsitzender der ÖTV zwischen 1964 und 1982 werden sowohl in Zusammenhang mit der Verbandsgeschichte als auch im sozial- und politikgeschichtlichen Kontext behandelt.
Das über 650 Seiten umfassende Buch gliedert sich in vier große Teile. Im ersten Kapitel beschreibt Führer zunächst die Besonderheiten der ÖTV, die nicht nur einen heterogenen Organisationsbereich aufwies, sondern auch die unterschiedlichen Gruppen der Arbeiter, Angestellten und Beamten zusammenbrachte. Diese Struktur führte zu ständigen inneren Reibungen und zu dauerhaften Konflikten mit konkurrierenden Organisationen wie der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) und dem Deutschen Beamtenbund (DBB). Auch die Rolle der Frauen greift Führer immer wieder auf, da sie im öffentlichen Dienst verhältnismäßig stark vertreten waren, aber lange in der Organisation keine einflussreichen Positionen einnahmen. Die Nähe zur Sozialdemokratie stellte an sich kein Spezifikum der ÖTV dar. Im öffentlichen Dienst aber fanden sich Gewerkschaftsmitglieder nicht nur bei den Arbeitnehmern, sondern auch auf Seiten der Arbeitgeber. Somit saßen sich in den Tarifverhandlungen nicht selten Gewerkschaftsmitglieder gegenüber. Diese Aspekte stellten die ÖTV vor ganz eigene Herausforderungen.
Den eher atypischen Weg Klunkers zum Vorsitzenden zeichnet Führer ebenfalls nach. 1925 in einer sozialdemokratischen Familie in Wuppertal geboren und stark vom Umfeld der dortigen Industriearbeiterschaft geprägt, begeisterte er sich als Jugendlicher dennoch für den Nationalsozialismus: Eine Haltung, die er rückblickend heftig bereute. Als Frontsoldat desertiert, geriet Kluncker in britische, schließlich in amerikanische Gefangenschaft. Er öffnete sich der Re-Education, besuchte zahlreiche Fortbildungskurse und verbrachte sogar eine gewisse Zeit in den Vereinigten Staaten, bevor er 1946 nach Wuppertal zurückkehrte. Nach einer kaufmännischen Lehre, einer kurzen Tätigkeit als Polizist und in der SPD studierte er an der Akademie der Gemeinwirtschaft in Hamburg. Einer wenig erfolgreichen Beschäftigung in der Schwerindustrie folgte 1952 die Anstellung in der Hauptverwaltung der ÖTV in Stuttgart, zunächst als Volontär. Über die Tarifabteilung gelangte er 1964 schließlich an die Spitze der Organisation.
Im zweiten Kapitel behandelt Führer die Phase bis zum Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition 1969. Ohne gesellschaftspolitische Aspekte auszuklammern, wie etwa die Haltung der ÖTV zum Ostblock oder den Notstandsgesetzen, liegt auch hier der Schwerpunkt auf den internen Konflikten, den Reformbemühungen und vor allem den tarifpolitischen Auseinandersetzungen. Zu Recht unterstreicht Führer die Bedeutung der Tarifpolitik als gewerkschaftliches Kerngeschäft, die aber in der historischen Forschung selten ausführlich thematisiert wird. Tarifpolitik sei zäh und werde als zeitfressendes, überflüssiges Ritual der Tarifparteien geschmäht. Führer zeichnet detailliert den Ablauf und die Inhalte der tarifpolitischen Auseinandersetzungen nach und unterstreicht dadurch ihre Relevanz. Beispielsweise griff die ÖTV die Differenz zwischen Lohn und Gehalt tarifpolitisch auf und arbeitete auf eine Nivellierung oder zumindest auf eine weitgehende Gleichstellung aller Beschäftigten hin.
Das folgende Kapitel zeigt die ÖTV in den 1970er Jahren auf dem Höhepunkt ihres gesellschaftlichen Einflusses. Führer thematisiert die Kontakte in die osteuropäischen Länder und die DDR, referiert den innerverbandlichen Streit um den sogenannten Radikalenerlass und die wachsende generationelle Differenz innerhalb der ÖTV. Diese innerorganisatorische Veränderung wirkte sich auch auf die Tarifpolitik aus. Die Frage, ob neben einer prozentualen Einkommenserhöhung auch ein Sockel für die unteren Einkommensgruppen gefordert werden sollte, um die großen Diskrepanzen im öffentlichen Dienst sukzessive einzuebnen, war ein Konfliktherd für das gesamte Jahrzehnt.
Aufgrund der Inflation drängte die Bundesregierung Anfang der 1970er Jahre auf niedrige Tarifabschlüsse, während die ÖTV staatliche Vorgaben vehement zurückwies und auf der uneingeschränkten Tarifautonomie insistierte. Damit schwelte der Grundkonflikt schon eine gewisse Zeit, der im Frühjahr 1974 in den Streik münden sollte. Führer erläutert sowohl die Gründe für den Arbeitskampf, die kräftezehrende organisatorische Vorbereitung, den konkreten Ablauf als auch die wirtschaftspolitischen Implikationen.
Nach dem dreitägigen Streik setzte die ÖTV eine elfprozentige Erhöhung bei einer Mindestzahlung von 170 DM durch. Viele Gewerkschaftsmitglieder hatten sich aber mehr erhofft, und so wurde das Verhandlungsergebnis nur knapp angenommen. Ganz anders fiel die Reaktion in den Medien und in der Politik aus. Führende Sozialdemokraten werteten es als Tragödie für den Staat, und die Zeitungen malten das Schreckgespenst eines überbezahlten öffentlichen Dienstes und einer aus dem Ruder geratenen Gewerkschaftsmacht an die Wand.
Die zweite Hälfte der 1970er Jahre prägten innerorganisatorische Umstrukturierungen. Der Aufstieg der Dienstleistungsbranche, die Tertiarisierung der Wirtschaft, schlug sich in der sozialen Struktur nieder. So ging der Anteil der Arbeiter immer weiter zurück, und die ÖTV entwickelte sich mehr und mehr zu einer Angestelltengewerkschaft.
Das Jahr 1975, wie Führer argumentiert, markierte eine Zäsur für den öffentlichen Dienst. Die Rationalisierungs- und frühen Privatisierungsdebatten erhielten einen neuen Schub. Die Gewerkschaft erkannte frühzeitig die Bedeutung dieser Entwicklungen als Ausdruck grundlegender Verschiebungen in der Arbeitswelt, auf die sie reagieren musste.
Das abschließende Kapitel behandelt die letzten Jahre der ÖTV unter dem Vorsitzenden Heinz Kluncker von 1980 bis 1982. Sie waren gekennzeichnet von einer zunehmenden Verunsicherung, die sich in verschärften Kontroversen und zugespitzten Konflikten in Tarifverhandlungen manifestierte. Die Kritik an einem aufgeblähten öffentlichen Dienst war stärker, die Rufe nach finanziellen Einschnitten waren lauter geworden. Folglich geriet die ÖTV unter Rechtfertigungsdruck. Sie konnte nicht mehr offensiv gestalten, sondern musste schmerzhafte Zugeständnisse in den Tarifabschlüssen hinnehmen.
Trotz seines angeschlagenen Gesundheitszustands ab Ende 1981 gönnte Kluncker sich keine Erholungspause. Dann brach einer der größten politischen Skandale der Bundesrepublik über die Gewerkschaften herein. Die Vorstandsmitglieder des gewerkschaftseigenen Wohnungsunternehmens Neue Heimat hatten sich über Jahre hinweg schamlos bereichert und Bilanzen geschönt. Das Unternehmen entpuppte sich als überschuldet und wurde vom DGB schließlich komplett abgestoßen. Dieser Korruptionsskandal brachte nicht nur die Gewerkschaften in Misskredit, sondern auch generell die Gemeinwirtschaft. Die Forderung nach rückhaltloser Aufklärung demonstrierte Kluncker auf dem Gewerkschaftstag 1982, als er dem neuen DGB-Vorsitzenden Ernst Breit symbolisch einen Besen überreichte. Als er dem ÖTV Hauptvorstand wenig später seinen Rücktritt bekannt gab, schlug er zugleich Monika Wulf-Mathies als Nachfolgerin vor. Damit durchkreuzte er nicht nur die Pläne seiner Vorstandskollegen, sondern ebnete auch der ersten Frau an der Spitze einer Gewerkschaft den Weg.
Als erste historische Untersuchung über die zweitgrößte DGB-Gewerkschaft schließt Führers Studie in mehrfacher Hinsicht eine Lücke. Er beschreibt den Lebensweg Klunckers im Kontext der Verbandsgeschichte und arbeitet detailliert die Organisationsstrukturen heraus. Den Schwerpunkt legt Führer durchgängig auf die Tarifpolitik als gewerkschaftliche Kernaufgabe. Auch wenn ein geringerer Umfang dem Buch nicht geschadet hätte, liest es sich flüssig, ist klar und nachvollziehbar strukturiert und verliert sich trotz der großen Komplexität niemals in Details.
Abschließend formuliert der Autor ein über den konkreten Gegenstand hinausgehendes Postulat: "Wer eine Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik schreiben will, der sollte seine Aufmerksamkeit daher gerade auch auf die Gewerkschaften, ihre Tarifpolitik und deren Kontext richten." (602) Und genau darin liegt das andere große Verdienst der Studie: Führer macht die Bedeutung einer sich in den letzten Jahren abzeichnenden Renaissance der Gewerkschaftsgeschichte für die allgemeine Geschichte der Bundesrepublik am Beispiel der ÖTV und ihres langjährigen Vorsitzenden deutlich.
Sebastian Voigt