Rezension über:

Karl Christian Führer: Das Fleisch der Republik. Ein Lebensmittel und die Entstehung der modernen Landwirtschaft in Westdeutschland 1950-1990 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 133), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, 521 S., ISBN 978-3-11-079217-1, EUR 74,95
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Rezension von:
Philip Kortling
Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Paul Blickle
Empfohlene Zitierweise:
Philip Kortling: Rezension von: Karl Christian Führer: Das Fleisch der Republik. Ein Lebensmittel und die Entstehung der modernen Landwirtschaft in Westdeutschland 1950-1990, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 4 [15.04.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/04/37684.html


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Karl Christian Führer: Das Fleisch der Republik

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Lange war es in der Geschichtswissenschaft still um den bundesdeutschen Fleischmarkt. Angesichts der seit Jahren hitzig geführten Debatten über die ökologischen, ethischen und sozialen Folgen der modernen Tierhaltung konnte es jedoch nur eine Frage der Zeit sein, bis sich auch der Blick der historischen Zunft auf das heutige System Fleisch richtet. Mit "Das Fleisch der Republik" bricht Karl Christian Führer nun das lange Schweigen. Der Wirtschafts-, Sozial- und Politikhistoriker strebt nicht weniger als "eine umfassende Geschichte des Fleischmarktes" an (2). Im Kern steht die Frage nach den Entstehungsbedingungen der modernen Landwirtschaft in Westdeutschland, die - so die zentrale These - ihre Wurzeln in den vier Jahrzehnten nach 1950 hat und im Zuge eines tiefgreifenden Vermarktungswechsels von Vieh und Fleisch zu dem bekannten Modell aus massenhafter und kostengünstiger (Nutz-)Tierproduktion und -verwertung führte.

Wie verschachtelt und nach welchen doch teils überraschend simplen Logiken sich diese Entstehungsgeschichte gestaltet, zeichnet Führer in sechs thematisch gegliederten Kapiteln kenntnisreich nach. Das Eingangskapitel, das dem zentralen Untersuchungszeitraum der Studie zeitlich vorgelagert ist, soll an dieser Stelle inhaltlich in aller Kürze vorweggenommen werden - es beschreibt die Genese eines kommunalen Marktsystems für Vieh und Fleisch, das Ende der 1860er Jahre entstanden ist und sich in den folgenden Jahrzehnten in den meisten deutschen Städten ausbreitete. Mit dem räumlich zentrierten und gesundheitspolizeilich überwachten kommunalen Schlacht- und Viehhöfen war dieses "ancien regime" (13) stark politisch geprägt und marktordnend reguliert, schuf zugleich aber Vorteile für alle Marktbeteiligten.

Dieses - aus heutiger Sicht - fremdartig anmutende System mit Schlachthöfen als gemeinnützigen Anstalten in städtischer Hand dient Führer als erläuternde Kontrastfolie wie auch als gliederndes Strukturelement für den Hauptteil seiner Studie. Denn erst mit dem Wechsel vom Verkäufer- zum Käufermarkt in den 1950er Jahren bricht dieses vormals weitgehend wettbewerbsbefreite Marktsystem auf, womit sich die Analyse auf die einzelnen Glieder der fleischwirtschaftlichen Wertschöpfungskette verschiebt.

Entlang des eigentlich irreversiblen Transformationsprozesses von toter Materie (Fleisch) zum lebendigen Organismus (Tier) beginnt Führer bei den deutschen Konsument*innen und ihren Verzehrgewohnheiten (Kapitel II), geht über zu den Orten des Verkaufs (Kapitel III) hin zu den Schlachtbetrieben (Kapitel IV) und den drei ökonomisch bedeutendsten Sparten der landwirtschaftlichen (Nutz-)Tierhaltung - der Hühner-, Schweine- und Rinderproduktion (Kapitel V) und schließt mit einem Exkurs zu den Versuchen der Politik, ein System der Massentierhaltung zu verhindern (Kapitel VI).

Diese Gliederung ist mit Bedacht gewählt. In ihr spiegelt sich, dass Führer den Wandel der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung und Fleischproduktion im Wesentlichen als Ergebnis eines Wandels der Verbrauchergewohnheiten ausmacht. Die Konsument*innen reichten demnach - stark vereinfacht - ihre kulinarischen Ansprüche an die Produzent*innen weiter; erst an den Handel, dieser an die Schlachtbetriebe und diese an die Landwirte.

Als Beleg hebt Führer nicht allein eine bis in die 1950er Jahre ungekannte Demokratisierung des Fleisches in der entstehenden Wohlstandsgesellschaft hervor, sondern ebenso qualitative Konsumveränderungen. Referenzpunkte bilden u.a. der Bedeutungsverlust von Selbstversorgungspraktiken, der Wandel im Einkaufsverhalten sowie Kontinuitäten und Brüche fleischbezogener Geschmackspräferenzen - insbesondere die Lust auf mageres Fleisch. Der Fokus auf Fleisch und Wurstwaren ist es, der die Studie des Autors von bisherigen konsumgesellschaftlichen Untersuchungen abgrenzt. [1] Zugleich ist es auch die enge Verschränkung mit den produktionsseitigen Verhältnissen.

Die Folgekapitel bilden daher den wohl stärksten Teil der Studie, mit dem Führer inhaltlich weitgehend Neuland betritt. [2] Entsprechend umfangreich fällt der Quellenkorpus aus, der von Bundes- und Landesarchiven über zeitgenössische Fachliteratur bis hin zu einer fast unüberschaubar dichten Anzahl an Branchenzeitschriften reicht. Trotz der hervorgehobenen Rolle der Verzehrpraktiken vermeidet der Autor in der Folge, in eine monokausale Ursachenanalyse zu verfallen. Die zahlreichen Vor- und Rückgriffe innerhalb der Studie verweisen im Gegenteil auf ein Gespür für die komplexen wirtschaftlichen und politischen Rückkopplungsprozesse zwischen den einzelnen Ebenen des Fleischmarktes und den vielfältigen, teils gegenläufigen Interessen ihrer Akteure.

Auf der Einzelhandelsstufe fokussiert Führer die um betriebswirtschaftliche Rationalisierung bemühten Supermärkte (später auch Discounter), die seit Ende der 1950er Jahre den Metzgern ihre Monopolstellung als Orte des Fleischverkaufs streitig machten. Die Reaktionen des Metzgerhandwerks, die Sortiments- und Expansionspolitik des Einzelhandels sowie der Konsumwandel werden dezidiert aufeinander bezogen. Oftmals sind es gerade die besonderen Eigenheiten des Produktes Fleisch, etwa als "zentral wichtiger 'Kundenmagnet'" (104), die dabei eine Eigendynamik entfalten und den Fleischverkauf letztlich nur in immer größeren Margen rentabel gestalten lassen.

Während sich so die Orte des Fleischverkaufs verschoben, gerieten die kommunalen Schlachthöfe seit den 1960er Jahren durch genossenschaftliche und private Schlachtbetriebe in Bedrängnis. Synergieeffekte und Zwänge zentralisierter Vermarktungsstufen sieht Führer hier ebenso ursächlich wie die wirtschaftspolitische Rahmung. Insbesondere der Abgleich systemimmanenter Stärken und Schwächen von privatwirtschaftlich forcierter "Totvermarktung" und kommunaler Lebendvermarktung machen den spezifischen Entwicklungsgang der bundesdeutschen Schlachtindustrie begreiflich. Trotz verwehrter Einblicke in Archive privater Schlachtbetriebe wird die Rolle unternehmerischer Eigeninitiative, bevorzugt anhand genossenschaftlicher Schlachthöfe, gekonnt einbezogen.

Für die landwirtschaftliche Nutztierhaltung werden die Folgen im steigenden Bedarf "marktkonforme[r] Tierkörper" (363) und einem entsprechenden Preisbelohnungssystem exemplarisch fassbar. Betriebskonzentration und Professionalisierung folgten, doch hebt Führer gerade die erstaunlichen Beharrungskräfte der deutschen Viehzüchter hervor, die trotz (und wegen) politischer Eingriffe eine Vielfalt heterogener Strategien praktizierten. Zwischen der Technisierung der Ställe, sich verschiebenden Abhängigkeitsverhältnissen und dem Konkurrenzdruck auf dem EG-Markt waren die Erfolgsrezepte vielgestaltig, zumal die Entwicklung stark von der jeweiligen Tierart abhing: aufgrund der unterschiedlichen Körperprozesse wie auch traditioneller Marktstrukturen (Schwein, Rind) oder nicht vorhandener (Huhn).

Kritikpunkte bleiben am Ende kaum. Über eine verstärkte Auseinandersetzung mit Veronika Setteles These der politischen Nahrungssicherung hätte sich der Rezensent gefreut. [3] Schade ist auch, dass die Schlachthofforschung zum 19. Jahrhundert keine Erwähnung findet. [4] Zudem hätte eine noch stärkere kulturhistorische Einbettung des Nahrungsmittels Fleisch weitere gewinnende Gedankengänge öffnen können. [5] Am Ende überwiegt aber eindeutig das Lob. Führers "Fleisch der Republik" ist eine sprachlich ausgereifte, argumentativ durchgehend schlüssige und mit breitem Wissensfundus brillierende Studie, der eine breite Leserschaft zu wünschen ist.


Anmerkungen:

[1] I.d.R. allgemein auf die Veränderungen im Einzelhandel und (nahrungsbezogenen) Konsumverhalten gerichtet oder auf mehrere Einzelbeispiele. Exemplarisch: Wolfgang König: Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne, Stuttgart 2008.

[2] Den globalen Fleischmarkt mit Bezug auf Deutschland nur in groben Ansätzen: Ernst Langthaler: Tiere mästen und essen. Die Fabrikation des globalen Fleisch-Komplexes, in: Tiere nutzen. Ökonomien tierischer Produktion in der Moderne (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes, 13), hg. von Lukasz Nieradzik / Brigitta Schmidt-Lauber, Innsbruck 2016, 33-48.

[3] Das gilt, zumal Settele bislang die einzige geschichtswissenschaftliche Studie ist, die sich mit Teilen des deutschen Fleischmarktes (Viehzucht und -haltung) befasst: Veronika Settele: Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945-1990 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 239), Göttingen 2020.

[4] Beispielhaft: Christian Kassung: Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung, Paderborn 2021; Lukasz Nieradzik: Der Wiener Schlachthof St. Marx. Transformation einer Arbeitswelt zwischen 1851 und 1914 (Ethnographie des Alltags, 2), Wien et al. 2017.

[5] Manuel Trummer: Die kulturellen Schranken des Gewissens - Fleischkonsum zwischen Tradition, Lebensstil und Ernährungswissen, in: Was der Mensch essen darf. Ökonomischer Zwang, ökologisches Gewissen und globale Konflikte, hg. von Gunther Hirschfelder et al., Wiesbaden 2015, 63-79.

Philip Kortling