Volker Reinhardt: Luther der Ketzer. Rom und die Reformation, München: C.H.Beck 2016, 352 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-68828-7, EUR 24,95
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Der in Fribourg lehrende Historiker, vortrefflicher Kenner Italiens und des Papsttums in Spätmittelalter und Renaissance, legt ein - stilistisch brillant geschriebenes - Buch vor, das sich von anderen Luther-Biographien durch einen originellen Wechsel der Perspektive unterscheidet, den der Titel ankündigt. Anhand römischer Quellen schildert er, wie man an der Kurie den Wittenberger Ketzer und die von ihm ausgelöste Bewegung wahrnahm. Die Titel der fünf biographisch geordneten Kapitel heben einzelne Aspekte hervor: Luther, der Mönch (1483-1517), der Kritiker (1517-1520), der Barbar (1521-1523), der Vergessene (1523-1534), der Ketzer (1534-1546).
Es ist wahr: "Nur wenn man auch die römischen Quellen betrachtet, lässt sich der Prozess der Ablösung, Spaltung, Trennung und Verteufelung adäquat nachvollziehen, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen" (14). Allerdings führt die - wohl vom Verlag zu verantwortende - reißerische Buchbanderole "Geheimakte Luther. Vatikanische Quellen decken auf, was in der Reformation wirklich geschah" die Leserschaft ebenso in die Irre wie der Umschlagtext: "Bisher unbeachtete Akten in den vatikanischen Archiven lassen erstmals detailliert erkennen, wie Luther von Rom aus wahrgenommen wurde." Denn es handelt sich keineswegs um bisher unbeachtetes, erstmals erschlossenes Material, sondern - wie bereits ein Blick in das Quellenverzeichnis und den Anmerkungsapparat zeigt - ohne jede Ausnahme um längst publizierte und ausgewertete Quellen: neben päpstlichen Schreiben vor allem die Berichte der päpstlichen Legaten und Nuntien (an deren Edition seit dem 19. Jahrhundert gerade protestantische Forscher von Theodor Brieger bis Gerhard Müller einen erheblichen Anteil hatten). Hier und da hätte man sich noch die Berücksichtigung des ein oder anderen Textes gewünscht [1], während andere auszuscheiden sind [2]. Neue, auf Archivstudien im Vatikanischen Archiv beruhende Forschungen darf man also nicht erwarten; sie könnten nicht nur bei Detailfragen neue Einsichten bringen [3]; gerade die für den Lutherprozess relevanten Bestände, die seit Paul Kalkoffs Forschungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, von denen auch die lückenhafte Dokumentation von Fabisch und Iserloh zur causa Lutheri [4] weithin abhängig ist, wohl niemand mehr extensiv durchgesehen hat, harren (nicht nur angesichts von Kalkoffs methodischen Mängeln und fragwürdigen Konstruktionen) einer erneuten Durchmusterung und Auswertung.
Das Verdienst des Verfassers besteht darin, dass er die der Fachwelt hinlänglich bekannten römischen Texte als Leitfaden einer Gesamtdarstellung benutzt und sie einem breiteren Publikum vorgestellt hat. Es entsteht ein eindrückliches Bild, wie gering die Fähigkeit und die Bereitschaft war, im Gefühl kultureller und theologischer Überlegenheit Luthers Anliegen zu verstehen und die von ihm ausgelöste religiöse Begeisterung ernst zu nehmen.
Wäre allein schon die Schilderung des Ketzers aus römischer Optik eine sinnvolle und Buch füllende Aufgabe gewesen, so beschränkt sich Reinhardt nicht darauf, sondern will dazu kontrastierend die Gegenseite in einer "Simultangeschichte" nebeneinanderstellen. Das Hauptinteresse ist dabei ein mentalitätsgeschichtliches (Darin ist wohl auch die überproportionale Berücksichtigung der quellenkritisch problematischen Tischreden Luthers begründet). Es wird ein Panorama gegensätzlicher kultureller Prägungen und Wahrnehmungen, Werturteile und Ressentiments, Loyalitäten und Feindbilder, Denkstile und Glaubensweisen der Akteure in beiden Lagern entworfen, die diese Einstellungen jeweils in bestehenden oder sich neu bildenden Netzwerken kommunizierten. Die Voraussetzungen für einen Verständnis heischenden Gedankenaustausch waren nicht gegeben, sondern es kam zum reinen Schlagabtausch. So bildet nach Reinhardt ein "clash of cultures" den Hintergrund der Reformation und zugleich das bis in die Gegenwart fortwirkende Erbe der Kirchenspaltung.
In der Ausarbeitung dieses beachtenswerten Aspekts liegt die Bedeutung, aber auch die Begrenzung des Buches. Der exzellente Kenner Roms zeigt sich mit Luthers Welt weniger gut vertraut [5] und zeigt dafür wenig Empathie. Es gelingt ihm schwer, den Lesern zu vermitteln, was den Kritiker Luther umtrieb, was die Anhängerschaft an seiner Sicht des Christentums zu faszinieren vermochte und - gerade bei vielen Klerikern und Religiosen - sogar zu biographischen Brüchen führte. Es ist auch schwierig, mit dem "clash of cultures" etwa die Sympathien für Luther unter den Humanisten begreiflich zu machen.
Im Fazit des Buches zieht Reinhardt die Linien zur Gegenwart aus. Einige süffisante Bemerkungen zu heutigen Konvergenzbestrebungen der Konfessionen und vor allem zum Erscheinungsbild der evangelischen Kirche treffen zwar auf manche Tendenzen zu, sind aber als pauschale Feststellungen (wie etwa die, dass das heutige Luthertum Luthers Rechtfertigungslehre aufgegeben habe) abwegig.
Noch ein Wort zum Umschlag-Bild: Während die meisten Luther-Biographien eines der Cranach-Porträts des Reformators ziert, ist auf Reinhardts Buch der Ausschnitt eines in den frühen 1550er Jahren entstandenen Freskos von Francesco Salviati im römischen Palazzo Farnese (heute Sitz der französischen Botschaft) abgebildet, das auch im Vorsatz und auf Seite 283 des Buches gezeigt und erläutert wird. (Es befindet sich im Amtszimmer des Botschafters und ist daher nur selten zu besichtigen.) Das Fresko zeigt den Disput eines Prälaten mit einem Laien in prächtiger Kleidung, der meist als Luther gedeutet wird. Bei dem Prälaten denkt Reinhardt an Pietro Paolo Vergerio und dessen Begegnung als Nuntius mit Luther in Wittenberg am 7. November 1535. Doch die Identifizierung beider Personen ist ganz unsicher. Die Familie Farnese hätte es wohl kaum gewollt oder zugelassen, dass der Erzketzer Luther und der abtrünnige, vor kurzem (1549) exkommunizierte Vergerio in Lebensgröße an die Wand des Festsaales ihres Palazzo gemalt worden wären. Die Frage, wer die beiden hier dargestellten Personen sind, muss wohl nach wie vor als ungelöst gelten. [6]
Anmerkungen:
[1] Zwei Beispiele: Es fehlt etwa das Schreiben des Kardinals Raffaele Riario an Kurfürst Friedrich III., Rom, 3. April 1520; ThürHStA Weimar, Reg. N. 10; Abdruck: Paul Kalkoff, Zum Lutherprozess, in: ZKG 25 (1904), 587-591, hier 589. Auch ein Gutachten des Kardinals Aegidius von Viterbo, des einstigen Ordensoberen Luthers, für Leo X. wäre aufschlussreich gewesen. Vgl. Hermann Tüchle, Des Papstes und seiner Jünger Bücher. Eine römische Verteidigung und Antwort auf Luthers Schrift "Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher von D. M. Luther verbrannt sind" aus dem Jahre 1521, in: Lutherprozeß und Lutherbann. Vorgeschichte, Ergebnis, Nachwirkung (= KLK 32), hg. von Remigius Bäumer, Münster 1972, 49-68.
[2] Die angeblich frühzeitige Intervention Leos X. (68f., 70, 75, 95, 332) über den Ordensoberen Gabriele della Volta (der aber damals noch nicht "zum General der Augustiner-Eremiten gewählt" worden war, sondern vorerst als Generalvikar kommissarisch den Orden leitete) muss unbeachtet bleiben, da das päpstliche Breve eine spätere Fälschung ist (Hans Schneider: Die Echtheitsfrage des Breve Leos X. vom 3. Februar 1518 an Gabriele della Volta. Ein Beitrag zum Lutherprozeß, in: Archiv für Diplomatik 43 (1997), 455-488).
[3] Ein Beispiel: Gleichartige Breven wie das "Glückwunschschreiben" Clemens' VII. an Landgraf Philipp von Hessen zum Sieg über die "Lutheraner" im Bauernkrieg (225) gingen auch an den Pfalzgrafen, an Georg von Sachsen, Wilhelm von Bayern, Heinrich von Braunschweig u.a. (Vatik. Archiv, Arm. XLIV, 8, f. 45r) und lassen eine breitere diplomatische Offensive erkennen.
[4] Dokumente zur Causa Lutheri (1517-1521), hg. von Peter Fabisch / Erwin Iserloh, 2 Bde., Münster 1988.
[5] So meint Reinhardt etwa, die Lektüre des Dominikaners Silvestro Mazzolini, genannt Prierias, von Luthers 95 Thesen sei so oberflächlich ausgefallen, dass er diese "fälschlich 'Schlussfolgerungen' (conclusiones) nannte", um anzudeuten, dass er den Text "kaum einer ernsthaften Diskussion für würdig hielt" (10f.). Doch conclusiones ist ein gängiger terminus technicus für akademische Thesen, der auch von Luther selbst und seinen Freunden für die 95 Thesen gebraucht wurde.
[6] So schon Anne Puaux: Introduction au Palais Farnese, Rom 1963, 82, die Einwände gegen die ältere Deutung auf Kardinal Cajetan und Luther vorbringt.
Hans Schneider