Thomas Leinkauf: Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350-1600), Hamburg: Felix Meiner Verlag 2017, 2 Bde., XXXIII + 1937 S., ISBN 978-3-7873-2792-8, EUR 198,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Philip Ajouri: Policey und Literatur in der Frühen Neuzeit. Studien zu utopischen und satirischen Schriften im Kontext Guter Policey, Berlin: De Gruyter 2020
Mariacarla Gadebusch-Bondio / Christian Kaiser / Manuel Förg (Hgg.): Menschennatur in Zeiten des Umbruchs. Das Ideal des politischen Arztes in der Frühen Neuzeit, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020
Frank Grunert / Matthias Hambrock / Martin Kühnel (Hgg.): Christian Thomasius: Briefwechsel. Historisch-kritische Edition, Bd. 1: 1679-1692. Unter Mitarbeit von Andrea Thiele, Berlin: De Gruyter 2017
Zu den eindrucksvollsten Zitaten aus Werken von Philosophen der Renaissance gehört der Satz von Pietro Pomponazzi: "Oportet enim in Philosophia haereticum esse qui veritatem invenire cupit" - wer die Wahrheit ergründen will, heißt das, der muss in der Philosophie ein Häretiker sein. Dass Thomas Leinkauf diesen Satz als Motto über seine Einleitung gesetzt hat, gehört sicher zu den glücklichsten unter den zahllosen Entscheidungen, die er bei seiner Formulierungsarbeit zu treffen hatte. Man kann vermuten, dass auch Leinkauf selbst sich an dieses Motto gehalten hat. Seine 'Denkgeschichte' des Humanismus und der Renaissance auf annähernd 2000 Druckseiten hat alle neueren Grundlagenwerke über die Philosophie der Frühen Neuzeit weit hinter sich gelassen, und dies natürlich nicht des gewaltigen Umfangs wegen, der nur die absehbare Folge einer überwältigenden Informationsdichte und noch mehr einer analytischen Denkleistung dieses 'aus einer Hand' geschöpften Werkes ist, das aus offensichtlich rein praktischen Gründen in zwei schwere Leinenbände aufgeteilt wurde.
Gemessen an dieser Fülle und Niveauhöhe müssen nicht nur ältere Autoritäten von Dilthey und Cassirer bis Garin, Kristeller oder Schmitt, sondern etwa auch ein respektables Gemeinschaftsunternehmen wie die Cambridge History of Renaissance Philosophy (1988) wie Stationen früherer Denkschulen erscheinen. [1] Leinkaufs Arbeit wurde in den Jahren 2010-12 durch die Opus Magnum-Förderung von Volkswagen und Thyssen finanziert, die aus der verdienstvollen Initiative 'ProGeisteswissenschaften' dieser beiden Stiftungen hervorgegangen ist. Da keine Chance besteht, in einer Kurzbesprechung den Themen und ihrer Behandlung auch nur annähernd gerecht zu werden, hier nur Hinweise zum Aufbau der Bände, den Intentionen und einzelnen Problemen der Darstellung.
Der Grundriss umfasst neun nicht nummerierte und jeweils in mehrere Kapitel gegliederte Hauptteile, auf deren Themen und Probleme der Leser durch ein Vorwort (XI-XXV) und eine in ihrer Dimension dem Umfang des Ganzen durchaus proportionalen Einleitung (1-249) vorbereitet wird und die in einem Epilog (1735-1758) nicht etwa resümiert, sondern erneut prägnant kommentiert und mit weiterführenden Anregungen versehen werden. Von den neun Hauptteilen sind drei bestimmten Autoren gewidmet, Francesco Petrarca im ersten, Nicolaus Cusanus und Marsilio Ficino im zweiten Band, die übrigen sechs Teile handeln von Disziplinen oder Themenfeldern, die in etwa dem humanistischen Verständnis der studia humanitatis folgen: Sprache, Ethik, Politik, Historik, Schönheit und Liebe, Naturphilosophie und Naturtheorie, Seelenlehre und Methodenreflexion.
Beides, die Mischung aus Autoren- und Themen-orientierten Teilen und die Frage, warum gerade Petrarca, Cusanus und Ficino (und nicht z.B. Lorenzo Valla, Vives und Lipsius, oder Poliziano, Morus und Machiavelli?), wird nicht ausdrücklich oder gar systematisch begründet, und wie immer in solchen Darstellungen werden dem interessierten Leser manche Themen und Namen vorenthalten oder zu wenig beleuchtet, und dies ist selbst bei einem so umfassenden Angebot wie diesem der Fall. Kann man die relativ geringe Beachtung des Erasmus oder Melanchthons notfalls mit der anderswo vorrätigen Spezialforschung begründen, so wird man doch mit Befremden feststellen, dass - ein Beispiel für andere - ein so vielfach bedeutender Autor wie Acontius (Philosoph, exilierter Häretiker, Techniker, ca. 1495-ca. 1566: u.a. De methodo, 1558) selbst in dem eigens der "Methodenreflexion" gewidmeten letzten Teil ohne Begründung übergangen wird. [2] Hinzufügen könnte man Gelehrte wie den Venezianer Paolo Sarpi, den jüngeren Scaliger oder den älteren Vossius, die gar nicht vorkommen, und überhaupt sind Autoren des niederländischen, des englischen wie auch des deutschen (Spät)Humanismus wenig präsent, was inhaltlich-systematisch kaum zu rechtfertigen sein dürfte; der berühmte Augsburger Byzantinist Hieronymus Wolf wird einmal erwähnt (aber mit vertauschten Namen registriert: Hieronymus als Nachname), Justus Lipsius kommt ganze dreimal vor (darunter einmal mit Druckfehler).
Neben Vorwort, Einleitung und Epilog sind ein Sach- und Begriffs- sowie ein Personenregister und brauchbare Inhaltsverzeichnisse eine wertvolle Hilfe zur Erschließung beider Bände. Die Zurückhaltung bei den Verzeichnissen der Primär- und Forschungsliteratur ist verständlich, dass wichtige Ausgaben und Studien übergangen wurden, ist dennoch zu bedauern. Während die behandelte Zeitspanne von ca. 1350-1600 im Rahmen des Üblichen bleibt, verweisen bereits die verschiedenen Namenspaare zur Kennzeichnung von deren Eckpunkten auf die gewollte Variabilität der Epochenstruktur: von Petrarca bis Bruno, von Petrarca bis Descartes, von Salutati bis Campanella oder von Boccaccio bis Suárez - und hier liegt auch ein entscheidender Differenzpunkt zu den traditionellen Auffassungen. "Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance gibt es in diesem einlinigen Sinne nicht, sondern es gibt ein komplexes Bündel parallel verlaufender philosophischer Diskurse, die sich zudem in engster Beziehung vor allem zur Theologie vollzogen haben", liest man erneut im Epilog (1757). Aufgrund der zurückliegenden Forschung sei man sich "der übergroßen Komplexität des Gegenstandes selbst" bewusst geworden, so heißt es bereits im Vorwort (XII), und deshalb könne man diese Zeit nicht einfach als Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit oder gar schlicht zur 'Subjektivität der Moderne' interpretieren: Die Philosophie repräsentiert in dieser "langen Gärungsphase" (2) "in sich gegenstrebige Entwicklungen und Dynamiken" (15). Es ist die "Signatur dieses Entwicklungsabschnittes, durch die herausgestellte Gegenstrebigkeit und Gegenläufigkeit in jedem Individuum und Einzelphänomen bestimmt zu sein" (18). Am Ursprung dieser Entwicklung stehe die "Umkehrung des Grundgedankens, dass 'das Tätigsein/Handeln (aus) dem Sein folgt', in die auch ontologisch fundierte Grundaussage, dass 'das Sein (aus) dem Tätigsein/Handeln' folge" (20). Doch die Bewegungen des Denkens sind nicht alleine in der Welt, sie sind auf eine 'Umwelt' aus Erfahrungen und Problemen bezogen, könnte man sagen (aber ein systemtheoretischer Ansatz ist dieser Darstellung fremd). Leinkauf nennt diese Parameter der Epoche "fundamentale Irritationen, die, durch neue Einsichten in verschiedenen Sachgebieten erreicht oder durch empirische Phänomene erzwungen, von den Autoren und ihren Zeitgenossen verarbeitet werden mussten." Die Einführung dieser begrifflichen Größe zählt zu den glücklichsten Entscheidungen seiner Konzeption. Vier solcher "Irritationen des Welt- und Wirklichkeitsverständnisses" werden in ihrer ganzen Komplexität in der Einleitung (28-113) vorgestellt, und sie bilden einen roten Faden, der im Verlauf der Untersuchung beständig präsent ist: (I) Die sich ergebende Vorstellung von einer potentia absoluta Gottes, von der Kontingenz der Welt und der Nominalismus, (II) die Erfahrung des Todes durch die Pest seit der ersten Welle ca. 1347-1351, (III) "die Weltexploration und die kopernikanische Wende (ca. 1450-1550)" und (IV) "Protestantismus und Konfessionalisierung (1517-1600)" (28).
Nicht übergangen werden sollte schließlich eine Passage im Vorwort (XIX-XXII), weil sie in zweierlei Hinsicht charakteristisch ist für das ganze Unternehmen. Es handelt sich um eine längere Reflexion und auch Klage über den Niedergang der Universität und der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die Lage der Philosophie und die Beschäftigung der Philosophen mit ihrer Geschichte im Besonderen. Diese Kritik ist zwar nicht knapp, aber meist derart sublim und abstrakt formuliert, dass man sie mindestens zweimal lesen muss - um dann aber für die Mühe mit einer von allem akademischen Opportunismus freien und ganz unpolemisch vorgetragenen Kritik belohnt zu werden. Zum einen ist dies typisch für dieses ganze Opus: Zu viel überbordende Fülle, zu wenig Klartext. Der Verfasser macht es einem oft wirklich schwer. Aber hinter den manchmal altertümelnden Floskeln, den etwas zu sorglos verklausulierten Schachtelsätzen, den Zusammenballungen von Begriffen und der oft wenig prägnanten Gedankenführung findet der geduldige Leser die anregendsten und frischesten Einsichten in die historischen Denkbewegungen, sofern er mit einiger 'Vorbildung' die nötige Zeit und Mühe aufbringt und z.B. auch die fast nie übersetzten lateinischen Zitate versteht. Zum anderen, und wenn man es denn begriffen hat, kann man nicht anders, als dem Verfasser zuzustimmen - und das umso entschiedener, je weiter man in der Lektüre fortschreitet -, wenn er fast demonstrativ keine Rücksicht nimmt auf die Defizite, die dem fahrlässig herbeireformierten Niedergang unserer Bildungsanstalten geschuldet sind und deren Profiteuren, die gewiss auch Fürsprecher einer 'leicht verständlichen' Sprache sein werden: "Geschichte der Philosophie, so ist die nicht immer offen geäußerte Vorstellung, sollte doch, wie in der Universitätslandschaft der Vereinigten Staaten, am besten ins 'department of history' verfrachtet werden, damit die sich aufspreizende 'Philosophie selbst', die sich auch noch als 'systematisch' erklärt, konkurrenzlos und unbehelligt von für tot erklärten Fragestellungen ihrem Geschäft nachgehen könne. Man muss sagen: Für alle diese ist dieses Buch wirklich nicht geschrieben - valde absit ut hunc librum legant." (XXI)
Eine Darstellung aus einer Hand also, verantwortlich allein der Aufhellung der historischen Sachverhalte, mit deutlicher Handschrift des Verfassers, der zu Recht seine eigenen Vorstellungen gebührend zur Geltung bringt und sich von den Devisen der kulturellen Destruktion nicht leiten lässt. Sie hat sich den Titel eines Opus magnum wohl verdient, und man kann ihr nur möglichst viele Leser wünschen.
Anmerkungen:
[1] Der einschlägige Band des Ueberweg ist seit Jahren angekündigt und soll 2017 erscheinen, offenbar in drei Teilbänden: Die Philosophie der Renaissance und des Humanismus, hgg. von Gernot M. Müller / Enno Rudolph, Basel [ersch. 2017] (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg, 3 Bde.).
[2] Folgenlose Erwähnungen des Namens nur in der Einleitung, etwa im Zusammenhang mit Ramus (194). Vgl. Art. Aconcio, Iacopo, in: Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, Berlin 2004, 7.
Herbert Jaumann