Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720, Göttingen: Wallstein 2018, 2 Bde., 1126 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1991-2, EUR 59,90
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Es ist die Geschichte der Formierung der Aufklärung in Deutschland und der dabei entscheidenden westeuropäischen Kontexte, die in Mulsows beiden Bänden in einer davor noch unbekannten Sichtweise erzählt wird. Jeder, der an der Erforschung der deutschen Frühaufklärung im europäischen Zusammenhang interessiert ist, wird die "erweiterte Neuausgabe" von Mulsows grundlegendem Buch Moderne aus dem Untergrund (Göttingen: Meiner 2002) begrüßen, dessen Untertitel "Radikale Frühaufklärung in Deutschland, 1680-1720", nun zum Gesamttitel einer 2-bändigen Publikation geworden ist. Dabei hat sich an der konzeptionellen und thematischen Reichweite wenig geändert. Während sich Überarbeitung und Erweiterungen in den Texten von Band I gegenüber der Fassung von 2002 offenbar auf ein paar Bemerkungen und Verweise auf aktuelle Literatur beschränken (auch Druckfehler sind stehengeblieben oder neue sind hinzugekommen) und sowohl die grundlegende Einleitung als auch die 8 Kapitel und deren Umfang so gut wie gleich geblieben sind, besteht die eigentliche Erweiterung von Mulsows Opus in einem stattlichen zweiten Band aus 7 offenbar neu erarbeiteten Kapiteln und mit noch mehr interessanten Illustrationen als die frühere Publikation. Jeder Band hat ein Inhaltsverzeichnis, die Verzeichnisse der Quellen- und der Forschungsliteratur (mit einer Liste der Publikationen des Verfassers) befinden sich jedoch für beide Bände im Anhang von Band II. Auch das Einleitungskapitel, dem ein knappes "Vorwort zur erweiterten Neuausgabe" voransteht, soll für den neuen Band gelten, der dann aber selbst in einer umgekehrten Optik resümiert wird: statt einer einleitenden Programmatik stehen hier am Schluss 10 Thesen als nachträgliche Zusammenfassung von einigen "allgemeineren Strukturen, die sich ergeben haben" (II, 488). Mit Band II werden demnach die Fallstudien des ersten Bandes fortgeschrieben, z.T. in einzelnen Aspekten auch wieder aufgenommen. Die fehlende neue Einleitung muss man schon deshalb nicht vermissen, weil auch hier an Zwischenbemerkungen, die die jeweiligen Problemlagen kurz reflektieren, kein Mangel ist.
Mulsows Forschungsinteresse - man muss dessen Besonderheit hier nicht ausführen - zeichnet sich ja durch seinen Ansatz bei mehr oder weniger clandestin, also im Verborgenen wirksamen Ideen und Schriften aus, oft ungedruckten und anonymen Manuskripten - einige hat Mulsow geradezu ausgegraben und zuerst bekannt gemacht und beschrieben, und dies in Kommunikationen, die am Rande, marginal, oder, sozialstrukturell gesehen, 'unterhalb' der institutionalisierten Gelehrtenkultur stattfanden und die institutionell vorgegebenen Formen und die vorgesehenen Grenzen überschritten haben, nicht selten auch ungewollt. Daher 2002 die Titelmetapher vom clandestinen "Untergrund" der radikalen Frühaufklärung, in dem Anregungen aus älteren Forschungen etwa von Ira O. Wade (1938) bis Robert Darnton (1982) wirksam wurden [1], während die andere maßgebliche Anregung, Jonathan Israels Radical Enlightenment, erst 2001 erschienen war und im Band von 2002 nur in einer Fußnote erwähnt werden konnte. [2] Die einzelnen Fallstudien sollen im Sinne einer "philosophischen Mikrohistorie" (I, 46), einer "Rezeptionsgeschichte in 'dichter' Beschreibung" (I, 55) verstanden werden. Mulsow lässt darin seine Hauptfiguren, in der 'großen' Ideengeschichte ehemals kaum bekannte Akteure und Autoren wie (neben vielen anderen) Urban Gottfried Bucher, Theodor Ludwig Lau, Friedrich Wilhelm Stosch, Peter Friedrich Arpe oder Christian Behmer, Johann Georg Wachter und Georg Michael Heber, den bekannteren Sozinianer Samuel Crell oder den Berliner Bibliothekar Veyssière La Croze, in bestimmten Situationen denken, diskutieren und mit Manuskripten und Gedrucktem im Rahmen bestimmter "Themenbündel" (I, 55) des 17. und frühen 18. Jahrhunderts agieren. Dazu zählen u.a. etwa die Bedeutung der philosophischen Eklektik, des (späten) Sozinianismus, der Lehre von der Staatsräson, der Kritik am christlich-humanistischen Platonismus oder der Rolle jüdischer Clandestina für die Religionskritik, ferner das Verhältnis von neuer Naturforschung und Medizin zur orthodoxen Bibelkritik, der Streit um die Idolatrie, um das moderne Naturrecht (Grotius) und um die Rolle Jakob Böhmes, bis hin zur Auseinandersetzung um "Die Menschlichkeit der Religionsstifter. Moses und Jesus zwischen Erhöhung und Erniedrigung" im XV. und letzten Kapitel.
Dass diese Themenkomplexe als Fallgeschichten vom Verfasser 'erzählt' werden, ist keine Redensart, sondern grundlegend für Mulsows ganze Konzeption und Bedingung für die stellenweise große Anschaulichkeit seiner Darstellung, - man kann das Formulierungsgeschick des Verfassers, mit dem er immer wieder bestimmte Situationen geradezu inszenatorisch zu vergegenwärtigen versteht, nicht hoch genug schätzen. Ebenfalls zentral für diese Art der Ideengeschichte ist die Absage an jene 'Linearität' der Darstellung einer traditionellen Geschichte philosophischer Ideen und Debatten, die sich im Wesentlichen an gedruckte Schriften der großen Denker hält und auf die Konstruktion eines kontinuierlichen Fortschrittsprozesses in die Moderne hinausläuft, auf der gut ausgeleuchteten Hochebene mit den großen Namen der Hobbes, Spinoza, Locke, Toland und Bayle, Pufendorf und Thomasius, Leibniz, Wolff und Voltaire. Hier dagegen eine Abfolge gewöhnlich situationenbezogener Detailanalysen, Wege "durch das Dickicht der Kontexte" (I, 11), und dabei - sehr wichtig für Mulsows auch spannenden Darstellungsstil - nicht ohne "detektivisches" (ebd.) Gespür: "[I]ndem ich einzelne Pflöcke einschlage" (I, 10), so charakterisiert der Verfasser seine methodische Alternative zu einer linearen Ideengeschichte, und am Schluss formuliert er dieselbe Vorgehensweise mithilfe einer optischen Metapher: "Auf bestimmte Schlüsselpersonen und Schlüsseldebatten fällt in verschiedenen Kapiteln immer neues Licht, wie bei einem Kaleidoskop, das seine Objekte immer neu perspektiviert" (II, 488). Deshalb wird an mehreren Stellen auch eine Kritik am einfachen Konzept der Säkularisierung, an der "pauschale[n] Einlinigkeit" (II, 95) dieses Begriffs vorgetragen, eine Kritik, die mithin anders begründet ist als ehedem bei Blumenberg. Wie sich auch die "Untergrund"-Metapher überhaupt als nicht sehr glücklich erwiesen hat [3], steht Mulsows Ansatz schließlich ganz entschieden gegen die (wiederum 'linearen', ja 'Fortschritts'-teleologischen) Vorstellungen einer clandestinen Aufklärung als 'frühbürgerliche' Heldengeschichte vom subversiv errungenen Fortschritt von 'unten', wie man sie nicht allein in verjährten Publikationen der DDR-Forschung, etwa von Stiehler u.a., findet. [4]
Könnte es sein, dass diese Erzählungen Mulsows, der nicht müde wird, gerade die Ambivalenzen und die kleinteilige Vielschichtigkeit, dabei auch Momente von Spott, Ironie und Mehrdeutigkeiten sowie - besonders faszinierend - die immer wieder nichtintendierten Wirkungen und Resultate, "the unintended performances" (John Pocock, II, 492), anschaulich zu machen, überhaupt diejenige Art und Weise des Umgangs mit der Geschichte der Aufklärung sind, wie sie heute gerade noch möglich ist? In unserem Zeitalter der "großen Regression" [5]: eines totalitären Kapitalismus und einer Renaissance der Religion, der scheinbar allseits begrüßten Zwangsdigitalisierung und von 'KI' als Glücksversprechen, einer Gegenwart also, die viel eher an Orwell und Huxley denken lässt und in der auch vieles clandestin ist, aber gewiss nicht in der Tradition einer 'Radikalen Aufklärung'.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ira O. Wade: The Clandestine Organization and Diffusion of Philosophic Ideas in France from 1700 to 1750, Princeton 1938, und Robert Darnton: The Literary Underground of the Old Regime, Cambridge, Mass. / London 1982, u.a. maßgebliche Forscher wie René Pintard, Margaret C. Jacob, Olivier Bloch, Tullio Gregory, Gianni Paganini, Guido Canziani, Silvia Berti, Miguel Benítez, Richard H. Popkin, Alan Charles Kors, David Wooton, Antony McKenna, Alain Mothu und Ian Hunter, in Deutschland sind neben Mulsow vor allem Martin Pott und Winfried Schröder zu nennen. Einen gebührenden Hinweis verdiente auch die frühe Studie von Wolfgang Philipp: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957, und die 2-bändige Pionierarbeit von Paul Hazard: La crise de la conscience européenne (1680-1715), Paris 1935 (dt. bereits 1939), von Mulsow treffend als "Konzept einer entscheidenden Innovations-Verdichtung um 1700" (I, 16) charakterisiert, gehört leider auch zu den stets aufgerufenen, aber im Detail wenig benutzten Klassikern.
[2] In: Moderne aus dem Untergrund, 2, Fn. 1. Vgl. Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750, zuerst Oxford 2001. Dazu der wichtige Band: Radikalaufklärung (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2053), hgg. von Jonathan I. Israel / Martin Mulsow, Berlin 2014, und die Rezension des Verfassers in: literaturkritik.de 9/2014.
[3] Mulsow distanziert sich davon nicht ausdrücklich, aber die Leitkonzepte in seinen seither erschienenen Büchern sind angemessener, vgl. vor allem: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, und davor ders.: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart / Weimar 2007.
[4] Vgl. Beiträge zur Geschichte des vormarxistischen Materialismus, hg. von Gottfried Stiehler, Berlin/DDR 1961, oder ders. (Hg.): Materialisten der Leibniz-Zeit, Berlin/DDR 1966.
[5] Vgl. Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, hg. von Heinrich Geiselberger (= edition suhrkamp), Berlin 2017.
Herbert Jaumann