Thomas Hegghammer (ed.): Jihadi Culture: The Art and Social Practices of Militant Islamists, Cambridge: Cambridge University Press 2017, XIII + 273 S., ISBN 978-1-107-01795-5, GBP 79,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Kristin Skottki: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie, Münster: Waxmann 2015
Matthias Vogt: Figures de califes entre histoire et fiction. Al-Walīd b. Yazīd et Amīn dans la représentation de l'historiographie arabe de l'époque ʿabbāside, Würzburg: Ergon 2006
Michael Bonner: Jihad in Islamic History. Doctrines and Practice, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2006
Dagmar Glass: Der Muqtataf und seine Öffentlichkeit. Aufklärung, Räsonnement und Meinungsstreit in der frühen arabischen Zeitschriftenkommunikation, Würzburg: Ergon 2004
Musharraf Ali Farooqi: The Adventures of Amir Hamza, New York: Random House 2008
Muzaffar Alam / Sanjay Subrahmanyam (eds.): Writing the Mughal World. Studies on Culture and Politics, New York: Columbia University Press 2011
David O. Morgan / Anthony Reid (eds.): The Eastern Islamic World. Eleventh to Eighteenth Centuries, Cambridge: Cambridge University Press 2010
Die öffentlich und medial geschickt inszenierten Gräueltaten des IS und von al-Qa'ida rufen bei Jugendlichen weltweit unterschiedliche Emotionen hervor, welche zwischen totaler Abneigung und Ekel oder eben Faszination und Zustimmung liegen. Innerhalb der Forschung wurden diese vielfältigen Emotionen bisher nur am Rande erwähnt und analysiert, konzentrierte man sich doch primär, ganz pragmatisch, auf die Strukturen, Operationen, politischen Ziele und Ideologien dieser Jihadisten-Gruppen. Nun liegt jedoch endlich die erste ausführliche Studie vor, welche die 'Kultur' dieser Terrorgruppen analysiert. Das mag auf den ersten Blick ohne Zweifel überraschen, denn wie soll unser klassischer Kulturbegriff mit den Taten dieser Terrorgruppen zusammenpassen? Doch wie der Herausgeber dieses Sammelbandes, Thomas Hegghammer, Senior Research Fellow beim Norwegian Defense Research Establishment (FFI) und apl. Professor für Politikwissenschaften an der Universität Oslo, gleich zu Beginn klarmacht, "[...] militancy is about more than bombs and doctrines. It is also about rituals, customs, and dress codes. It is about music films, and story-telling. It is about sports, jokes and food." [1]
Zu Recht beklagt Hegghammer, dass diese 'soft dimensions' des militärischen Lebens bisher jedoch viel zu wenig Aufmerksamkeit bekamen, im Gegensatz zu den militärischen Operationen und Opfern des IS. Dies hat einen einfachen Grund: Medien und Öffentlichkeit sind viel weniger an den eigentlichen Ursachen, als vielmehr an den spektakulär inszenierten Gräueltaten der Jihadis interessiert. Um weitere Rekrutierungserfolge der obigen Gruppen jedoch langfristig verhindern zu können, so Hegghammer, müsse man aber zuallererst verstehen, welche Emotionen sie hervorrufen, warum diese überhaupt so erfolgreich und attraktiv sind und auf welches Arsenal die jeweiligen 'recruiters' zurückgreifen können. Und so möchte Hegghammer in seiner Studie einen anderen, jedoch äußerst wichtigen Weg einschlagen, um die Kultur des modernen Jihadismus erstmals detailliert zu analysieren und somit ihre globale Anziehungskraft besser verstehen zu können: "Nobody wakes up in the morning and goes and blows themselves up [...] It's incremental. It's a long process [...]." [1] Und so ist für Hegghammer die Jihadisten-Kultur "[...] one of the last major, unexplored frontiers of terrorism research, one that merits an entire new research program". [2]
In der vorliegenden Studie führen der Herausgeber und sein Autorenteam die Leser überzeugend in diese noch größtenteils unbekannte kulturelle Welt der Jihadis ein. Mit einer beeindruckenden Fülle von Primärquellen und auf dem neusten Stand der Methodik untersuchen die Autoren, was in diesen Organisationen alltäglich und fern des Kampfplatzes vor sich geht und welche Freizeitkultur die Fußsoldaten praktizieren. In seinem Sammelband hat es der Herausgeber geschafft, das who-is-who der neuen Generation von Terrorismusforscherinnen und Terrorismusforschern zusammenzustellen, welche uns allesamt ausgezeichnete und hochinteressante Beiträge präsentieren.
In seiner sehr gelungenen Einleitung ("What Is Jihadi Culture and Why Should We Study It?", 1-21) plädiert Hegghammer überzeugend für ein zukünftiges 'Research Program on Jihadi Culture' auf interdisziplinärer Ebene und unterstreicht, dass "[...] Jihadi culture is hardly an esoteric subject, but one that has bearing on some fundamental questions about human behavior. How does culture vary across social groups and why? Why do even the busiest men invest time in art? What are the relative roles of cognition and emotion in individual decision making? Why do some people choose to participate in high-risk activism? Research on jihadi culture should therefore interest scholars from a broad range of disciplines, including Islamic studies, anthropology, sociology, psychology, political science, and even economics. In several of the disciplines there already are related research efforts and debates that may inform, and be informed by, the study of Jihadi culture." (17)
Robyn Creswell und Bernard Haykel analysieren daran anschließend die Funktion und Bedeutung der Poesie für die Jihadi-Kultur ("Poetry in Jihadi Culture", 22-41) und weisen darauf hin, dass "[...] the culture of Jihad is a culture of romance. It promises adventure and pretends that the codes of medieval heroism and chivalry are still relevant. All Jihadi poets depict themselves as the protectors of women and children, particularly widows and orphans. Having renounced their nationalities and the community of most co-religionists, the militants must invent an identity of their own. And, indeed, jihadi politics is a type of identity politics - a demand for recognition and a performance of authenticity. The knights of jihad style themselves as the only true Muslims, and while they may be tilting at windmills, the romance seems to be working. IS recruits do not imagine they are emigrating to a dusty borderland between two disintegrating states, but to caliphate with more than a millennium of history." (35)
Darauf aufbauend zeigen die hochinteressanten Beiträge von Nelly Lahoud ("A Capella Songs (anashid) in Jihadi Culture", 42-62) und Jonathan Pieslak ("A Musicological Perspective on Jihadi anashid", 63-81), welch tragende Rolle die auf eine jahrhundertealte Tradition zurückgreifenden a cappella Lieder (nashid, pl. anashid) in diesen Gruppen mittlerweile einnehmen. Das nashid ist die einzige Musikform, welches islamische Extremisten überhaupt ausüben dürfen, da es das islamische Musik-Verbot umgeht, indem es nicht von Instrumenten begleitet wird. Auf diese Weise erfreut es sich seit den 1970er-Jahren bei den Islamisten immer größerer Beliebtheit. Zu Beginn adaptierten die ersten Jihadi-Gruppen noch ältere, allgemein populäre Gesänge; als sich die Gruppen jedoch vor allem in den 80er-Jahren sprunghaft entwickelten, begannen sie mehr und mehr ihre eigenen anashid zu produzieren, in welchen sie nun ihre eigenen Führer und deren Schlachtenruhm besangen. Mittlerweile hat sich die Technik und Klangqualität dieses Genres jedoch enorm verbessert und die musikalischen Arrangements sind wesentlich anspruchsvoller geworden. Zahlreiche anashid erzielen oftmals Millionen YouTube Klicks und werden von einem weltweiten Publikum bejubelt. Und so ist das jihadi-nashid mittlerweile die treibende Kraft hinter fast allen audiovisuellen Materialen der unterschiedlichsten Jihadi-Gruppen geworden und kaum ein Rekrutierungsvideo kommt mittlerweile noch ohne sie aus; zahlreiche Instruktionsbücher stehen den global agierenden 'recruiters' zur Verfügung: "We often find anashid mentioned in sections dealing with audio-visual tools and other means that affect the recruits' emotions (mu'aththirat). Thus it often dealt with separately from issues pertaining to ideological persuasion and indoctrination. One such training manual is entitled A course in the Art of Recruiting (Dawra fi Fann al-Tajnid) by a certain Abu ʿAmru al-Qaiʿdi. It devotes a whole section to examples of audio-visual educational tools, highlighting the utility of Rih al-Janna (Winds of Paradise), a series of video recordings by al-Sahab that included lectures, interviews with Jihadis, Qur'an recitation, and anashid." (50)
Es folgen die Beiträge von Afshon Ostovar ("The Visual Culture of Jihad", 82-107), Anne Stenersen ("A History of Jihadi Cinematography", 108-127) und Ian R. Edgar und Gwynned de Looijer, die sich intensiv mit der Bedeutung von Träumen innerhalb der Jihadi-Gruppen auseinandersetzen. ("The Islamic Dream Tradition and Jihadi Militancy", 128-150). Sie zeigen auf, dass militante Islamisten ihre Nachtträume in großem Umfang dazu nutzen, um einen gewalttätigen Jihad anzukündigen und ihre Anhänger für diesen Kampf zu begeistern. Bin Laden selbst berichtete von seinen Träumen in einem seiner ersten Videos, die nach dem 11. September veröffentlicht wurden. Und die Anhänger Mullah Omars berichten davon, dass dieser sich bei der Gründung der Taliban und ihrer Führung einzig auf seine Träume berief. Derartige Nachweise gibt es von zahlreichen anderen bekannten Militanten, so Edgar und de Looijer, darunter von Richard Reid, der gescheiterte Schuhbomber, und den 9/11-Attentätern Ramzi bin al-Shibh, Khalid Scheich Muhammad und Zacarious Moussaoui. Dieser äußerst zu empfehlende Beitrag aktualisiert die Diskussion und Analyse innerhalb der Forschung bezüglich der Rolle und Bedeutung von Träumen für die IS-Jihadisten und beschreibt anschaulich, wann und wie sie interpretiert werden, von wem genau, welche Rolle sie in der jeweils individuellen Entscheidungsfindung einnehmen und wie die Führung die Interpretationen gezielt dazu nutzen, um Autorität zu beanspruchen und Entscheidungen zu rechtfertigen.
Im siebten Kapitel untersucht David Cook zahlreiche literarische, audiovisuelle und materielle Quellen, die dem Gedenken der Gefallenen gewidmet sind und verfolgt ihre wesentlichen Veränderungen innerhalb der letzten drei Jahrzehnte ("Contemporary Martyrdom: Ideology and Material Culture", 151-170). Im letzten Kapitel ("Non-military Practices in Jihadi Groups", 171-201) fasst Hegghammer die verschiedenen gesellschaftlichen Praktiken der Jihadis zusammen, indem er sich primär auf deren Memoiren und weiterer Primärquellen beruft.
Diese 'weichen' kulturellen und lange Zeit vernachlässigten Faktoren tragen also entscheidend zu den erfolgreichen Rekrutierungsprozessen dieser extremistischen Gruppen bei und liefern gleichzeitig ein wesentlich tieferes Verständnis ihrer Weltanschauungen und kulturellen Alltagspraxis.
Diese Studie ist unbedingt zu empfehlen und man darf Hegghammer und seinem Autorenteam gratulieren, da sie einen äußerst frischen Blick auf dieses militante Milieu liefern. Sie zeigen, dass der aktuelle Jihadismus eine, so seltsam es auch klingen mag, äußerst reiche ästhetische Kultur vorweisen kann. Das Freizeitleben in den hier untersuchten Jihadi-Gruppen ist mit Poesie und Musik gefüllt und ihre Kämpfer verbringen sie mit Traumdeutungen und öffentlichem Weinen, welches als eine besondere Hingabe zu Gott unter den Kämpfern angesehen wird. Die Jihadis zeigen, trotz ihres allgemeinen Macho-Gehabes und Willen zur Gewalt und Grausamkeit, Demut, künstlerische Empfindlichkeit und Emotionen.
Anmerkungen:
[1] http://www.chronicle.com/article/The-Ties-That-Bind-Jihadists/234161.
[2] Ebd.
Tilmann Kulke