Horst Möller / Claus Scharf / Wassili Dudarew u.a. (Hgg.): Deutschland - Russland. Stationen gemeinsamer Geschichte, Orte der Erinnerung. Band 1: Das 18. Jahrhundert, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, 410 S., ISBN 978-3-11-034835-4, EUR 29,95
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Horst Möller / Alexandr O. Tschubarjan (Hgg.): Die Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) auf dem Gebiet von Kultur, Wissenschaft und Bildung 1945-1949. Ziele, Methoden, Ergebnisse. Dokumente aus russischen Archiven, München: K. G. Saur 2005
Claus Scharf (Hg.): Katharina II., Russland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung, Mainz: Philipp von Zabern 2001
Horst Möller / Ilse Dorothee Pautsch / Gregor Schöllgen / Hermann Wenkter / Andreas Wirsching (Hgg.): Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess. Bearb. v. Heike Amos und Tim Geiger, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Die Entstehungsgeschichte des Werkes könnte so verlaufen sein: Man hatte sich etwas vorgenommen, hernach die Lust verloren und bringt es trotzdem tapfer zu Ende. War der 2014 erschienene Band zum 20. Jahrhundert dafür gelobt worden, dass er Kontroversen sichtbar machte, wirkt dieser zum (bis 1815 verlängerten) 18. Jahrhundert fast wie eine Kollektivmonografie.
Trotz Untertitel geht es in ihr weder um Erinnerung noch um Gemeinsamkeit. Zwei Reformnarrative marschieren getrennt durchs Buch bis Leipzig, um dort gemeinsam Napoleon zu schlagen. Auf ein Kapitel über Friedrichs Reformen in Preußen folgt eines über Katharinas Reformen in Russland und so weiter. Welchen Mehrwert bringt es, dass die meisten Kapitel von einem deutsch-russischen Autorenpaar verfasst wurden? Auch in ihren besten Teilen bleibt die Darstellung im Rahmen konventioneller Lehrbücher.
Niemand wird die Absicht haben, ein im deutsch-russischen Regierungsauftrag von etwa dreißig Autoren verfasstes, zweispaltig zwischen bunte Bilder auf 1,27 kg schweres Papier im Festeinband gedrucktes Gemeinschaftswerk auf die inhaltliche Goldwaage zu legen. Der Rezensent sieht dennoch Anlass zu begründen, warum er potentiellen Lesern nur raten kann, ergänzend zu diesem Buch unbedingt auch von der (inzwischen recht zuverlässigen) Wikipedia und dem eigenen Verstand Gebrauch zu machen.
Das Bild, das dieses Buch von der europäischen und speziell der russischen Geschichte vermittelt, ist ein sehr einseitiges. Das Problem liegt weniger in den Behauptungen als in den Weglassungen. Letztere mögen den Entstehungsumständen eines Kollektivwerkes zuzuschreiben sein - zum Teil womöglich aber auch einem allzu stur befolgten Schema vom Aufgeklärten Absolutismus. Entsprechend den stillschweigend vorausgesetzten hobbesianischen Postulaten treten immer nur zwei Akteure auf: der Monarch und der "Aufklärer", wobei der letztere wiederum fast nur als Mentor und Gehilfe des ersteren von Bedeutung ist. Der Rest der Welt ist ein politischer Hohlraum. Die Möglichkeit, dass Kollektive - sogar solche, die mit "europäisch aufgeklärtem Fortschrittsdenken" noch nie in Berührung gekommen sind - sich politisch selbst organisieren und vernünftig handeln können, wird a priori ausgeschlossen.
Ein Beispiel: Allrussischer Zentralerinnerungsort Nr. 1 ist doch wohl der Rote Platz. Dort treten dem unbedarften westlichen Bildungstouristen zwei bewaffnete Gestalten entgegen, die nicht jeder von ihnen gleich einordnen kann: Minin und Požarskij. Im Buch werden sie nicht erwähnt! Laut Wikipedia waren das die Organisatoren einer Volksbewegung, die 1612/13 westliche Besatzer aus dem Land vertrieb und die Wahl Michail Romanovs zum Zaren in die Wege leitete. Was aber sagt unser Buch dazu? "Die [...] Erfahrung der Zeit der 'Wirren' gab dem Land den Anstoß, [...] sich über die Staatsform Gedanken zu machen, so über die Möglichkeit, den Zaren zu wählen." (30) Man lese das zweimal. Das Buch erzählt von "Denkanstößen zu Wahlmöglichkeiten" und verschweigt dabei, dass tatsächlich gewählt wurde. Es verschweigt den Erfolg einer unabhängigen Volksbewegung. Hier wurde die Möglichkeit verpasst, das deutsche Publikum über die ihm weniger bekannten Teile der russischen Geschichte aufzuklären, in diesem Fall über den populären Gegenmythos zur niemals wirklich geliebten Figur Peters des Großen. Nicht zufällig war die Großtat Minins und Požarskijs bevorzugter Stoff der frühen (autochthon) russischen Dramatiker, Romanciers und Opernkomponisten und des patriotischen Schulunterrichts. Den Jahrestag der entscheidenden Schlacht (4. November 1612) hat Putin 2005 an die Stelle der Revolutionsjubiläen gesetzt.
Handelt es sich um einen Lapsus? Immerhin wird der Wahlakt von 1613 in der kleingedruckten Erläuterung zur Stammtafel der Romanovs doch noch erwähnt (131). Leider gilt nicht dasselbe für die Wahlakte von 1598, 1610, 1682 oder die 1730 erfolgte Wahl Annas I. durch eine Reichsversammlung. Stattdessen heißt es schwammig, Anna sei vom Obersten Geheimen Rat "auf den Thron gebracht" worden (135). Dass Elisabeth I. und Katharina II. "mit Hilfe der Garden" auf den Thron gelangten (243), trifft zwar zu - hätte aber Anlass geben können danach zu fragen, wer diese Garden eigentlich waren und was sie dazu befähigte, Herrscher ein- und abzusetzen. Selbst im Abschnitt zu den Militärreformen findet sich kein Hinweis (63-74).
Zentralerinnerungsort gemeinsamer deutsch-russischer Geschichte ist bekanntlich Petersburg. Zu dieser Geschichte gehört aber auch die Frontstellung zwischen deutsch-baltischen und autochthon russischen Eliten. Vom ewigen Kampf der letzteren um größere Teilhabe an der politischen Macht ist im Buch nirgendwo die Rede. Die erwähnten Umstürze werden nicht in diesen Kontext eingeordnet. Die Deutschen begrüßten die Dynastisierung und Bellizisierung der russischen Politik, die ihnen enorme Karrierechancen eröffnete. Die Russen hingegen wollten das militärische Engagement auf reine Selbstverteidigung beschränken. Auch dieser Zusammenhang kommt nie zur Sprache. Der aristokratische Usurpationsversuch von 1730 wird in fünf Zeilen abgehandelt (135). Die geistige Fronde um Panin, Fonvizin, Sumarokov und Ščerbatov wird ebenso totgeschwiegen wie die patriotische Bewegung von 1812, die aus ihr hervorging. Als "russische Reaktion auf die Französische Revolution" bezeichnet das Buch die Slawophilie und die Werke Karamzins (287f.); die Dekabristen erwähnt es nicht einmal.
Blind bleibt das Buch für alle religiösen, kulturellen und politischen Kontexte, in die die Begegnungen von Deutschen und Russen eingebettet waren. Es weiß nichts von der atavistischen Scheu der Russen vor der "Unreinheit" der Deutschen. Im 18. Jahrhundert mag sie in den Hauptstädten zwar kaum noch als authentisch empfunden worden sein. Aber das Bild vom Deutschen als dem Schwarzkünstler, der mit dem Teufel im Bunde steht, um sich mit Wunderwaffen und Reformprojekten beim Herrscher einzuführen, ist viel älter als Goethes Faust. Um 1740 nervten die Deutschen die Russen mit ihren Diskursen von Adel und Ehre. Den Russen fehlten "ritterliche" Ehrbegriffe und damit die Bereitschaft, sich ihretwegen auf Kriege oder Duelle einzulassen. Darum galten sie den Deutschen als "Sklavenseelen". Und die Deutschen den Russen umgekehrt als grausam - ein Klischee, das man in Annas Günstlingen Biron, Münnich und Osterman anschaulich verkörpert sah und das die Slawophilen später zu einer Weltanschauung auswalzten. Auch davon wird nichts gesagt. Und warum findet ein Buch, in dem gefühlt jedes dritte Wort entweder "Aufklärung", "Reform" oder "Fortschritt" lautet, keinen Anlass, den Verzicht Elisabeths auf Vollstreckung der Todesstrafe zu würdigen? Vielleicht weil diese Zarin aus "abergläubischer" anstatt aus "aufklärerischer" Motivation handelte? Oder weil man doch irgendwie ahnt, dass ihre zur Schau gestellte Milde eine Spitze enthielt, die sich gegen die Deutschen richtete?
Kurz: Dieses Buch ist Ausdruck einer hobbesianischen Geschichtsschreibung, die alteuropäischen Gesellschaften ihre geistige und politische Eigenbewegung absprechen will, um die monströse Machtkonzentration des Absolutismus in ein besseres Licht rücken zu können. Im Namen der "Erinnerung" praktiziert sie Vergessen und im Namen der "Aufklärung" zelebriert sie den naiven Monarchismus.
Lorenz Erren