Rezension über:

Sebastian Kalden: Über Kreuz in der Raketenfrage. Transnationalität in der christlichen Friedensbewegung in Westeuropa 1979-1985 (= Historische Grundlagen der Moderne; 17), Baden-Baden: NOMOS 2017, 373 S., ISBN 978-3-8487-3275-3, EUR 79,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Markus Thurau
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Markus Thurau: Rezension von: Sebastian Kalden: Über Kreuz in der Raketenfrage. Transnationalität in der christlichen Friedensbewegung in Westeuropa 1979-1985, Baden-Baden: NOMOS 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/06/30021.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sebastian Kalden: Über Kreuz in der Raketenfrage

Textgröße: A A A

Wie sehr eine Welt ohne Atomwaffen ein Ideal darstellt, das bis heute nicht verwirklicht ist, machen die internationalen Krisen und Konflikte der letzten Zeit deutlich, die in der angekündigten Modernisierung bestehender Atomwaffen-Arsenale und der Androhung nuklearer Vergeltungsschläge gipfelten. Auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Internationale Kampagne für die Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und die andauernden Bemühungen der christlichen Kirchen um eine Ächtung dieser Waffen verweisen auf ein Problem, das in den frühen 1980er Jahren die Massen mobilisieren konnte und Millionen besorgte Bürger auf die Straße brachte. Die hier zu besprechende Studie setzt sich mit der damaligen Protestbewegung in einer transnationalen Perspektive auseinander, die Formen der Vernetzung und des Austauschs der damaligen Akteure über die Ländergrenzen hinweg aufzeigt. Denn obwohl sich diese Bewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss von 1979 formiert hatte, verfolgte sie doch ein globales Ziel, nämlich die Welt von Kernwaffen zu befreien.

Sebastian Kalden beschreibt "Transnationalisierung" als einen "Prozess zunehmender Verflechtung innerhalb der europäischen Friedensbewegung" (31) und nimmt dabei mehrere Einschränkungen vor: Zum einen wird nur das "christliche Spektrum" (59) der Friedensbewegung vorgestellt, das Themen der christlichen Tradition aufgriff und auf die politischen Forderungen der allgemeinen Friedensbewegung übertrug. Biblisch-theologische Sprache und religiöse Motive (z.B. Sühne, Umkehr) dienten hierbei der Legitimierung christlicher Friedensarbeit. Zudem werden nur die drei Schlüsselstaaten der westeuropäischen Friedensbewegung, nämlich die Bundesrepublik, die Niederlande und Großbritannien, untersucht. Wäre man, vor allem mit Blick auf Deutschland, auch daran interessiert gewesen, was auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs passierte, so ist die Konzentration auf Westeuropa gleichwohl klug gewählt. Denn der Autor untersucht drei verschiedene Ebenen (Organisationen, Aktionen, Ideen), die nur für die christliche Friedensbewegung westlicher Demokratien Vergleichspunkte ermöglichen. So konnten die christlichen Friedensgruppen nur im Westen ungebunden miteinander interagierten, sich regelmäßig besuchen und dabei verschiedene Aktionsformen des Protests (z.B. Demonstrationen) ungehindert praktizieren, mit denen sie ihre alternativen Überzeugungen hinsichtlich Frieden und Sicherheit verbreiten konnten. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen jeweils eine Organisation aus jedem Land: für die Niederlande der Interkerkelijk Vredesberaad (IKV), für Großbritannien die Christian Section of the Campaign for Nuclear Disarmament und für die Bundesrepublik die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Weitere Organisationen, wie etwa Pax Christi, kommen zwar zur Sprache, stehen aber nicht im direkten Fokus. Zeitlich bewegt sich die Studie in den Jahren zwischen 1979 (NATO-Doppelbeschluss) bis 1985, da in diesem Jahr die Niederlande der Stationierung neuer amerikanischer Atomwaffen zustimmten, nachdem es zuvor bereits in den beiden anderen Ländern zur Dislozierung dieser Waffen gekommen war. Dadurch verlor die Friedensbewegung an Bedeutung und konnte keine Massen mehr mobilisieren, denn, so eine zentrale Prämisse des Autors, die neue Friedensbewegung war eine "Ein-Punkt-Bewegung", die an einem singulären Ereignis, dem NATO-Doppelbeschluss, ausgerichtet war, und zusammenbrach, nachdem der Protest diesen Beschluss nicht verhindern konnte. In den Jahren nach 1983 gab es keine "Leitperspektive" (295), die den Protest in eine neue Richtung hätte lenken und damit am Leben erhalten können. So erklären sich auch die drei Hauptkapitel des Buches, die die Entstehung und Dynamisierung der transnationalen Friedensbewegung (1979-81), deren Höhepunkt (1981-83) und schließlich deren Ende als Massenbewegung (1984-85) beschreiben.

Eine Besonderheit der untersuchten Transnationalisierung ist darin zu sehen, dass die Verflechtung weitgehend nach holländischem Muster geschah: Die Protagonisten des IKV nahmen in der Nuklearkrise "den Platz von Vordenkern" ein (121), an denen sich die anderen Nationen orientierten. Der IKV gab nicht nur die Inhalte vor, sondern ebenso das organisatorische Know-how. Beispielsweise wären die Friedenswochen, die ein erfolgreiches niederländisches Exportgut waren und auch in anderen Ländern praktiziert wurden, ohne den IKV kaum möglich gewesen. Walter Laqueur hat dafür den Terminus "Hollanditis" geprägt. Ein Begriff, der den transnationalen Charakter der Friedensbewegung verdeutlicht, da er - sowohl befürwortend als auch ablehnend - zum Ausdruck brachte, dass sich die niederländischen Aktivitäten wie eine Epidemie auf andere Länder übertrugen. Der Autor arbeitet detailliert sowohl die Vorteile und Möglichkeiten heraus, die in dem internationalen Austausch lagen, als auch dessen Grenzen und Probleme. So kann er zeigen, dass nationale Interessen und Eigenheiten, wie etwa die deutsche Frage, d.h. der Streit um die Souveränität der beiden deutschen Staaten, erhalten blieben und auch zu Verständigungsschwierigkeiten führen konnten.

Aufgrund des Ausschnitts aus der christlichen Friedensbewegung, der solche Gruppen in den Fokus rückt, die auch den Anliegen des "nichtchristlichen" Teils der Friedensbewegung entsprachen, drängt sich die Frage auf, ob nicht ein zu homogenes Bild der christlichen Positionen gezeichnet wird. Ausgeblendet werden christliche Gruppen und Organisationen, die andere Schwerpunkte in der Sicherheitspolitik setzten und zu größeren Zugeständnissen in der Raketenfrage bereit waren. Die Stärke der vorliegenden Arbeit liegt daher darin, die Interaktion friedensbewegter Christen mit nicht genuin christlichen Organisationen und deren Anliegen aufgezeigt zu haben. Hierbei wird deutlich, dass die untersuchten christlichen Gruppen weitreichende politische Interessen vertraten und hofften, dass eine christlich vorgetragene Kritik am NATO-Doppelbeschluss christliche Wähler überzeugen und somit auch eine politische Veränderung herbeiführen könnte; eine solche Strategie war nicht zuletzt deswegen notwendig, weil die christlichen Parteien im Großen und Ganzen skeptisch auf die politischen Forderungen der Friedensbewegung reagierten.

Ob die These des Autors zutreffend ist, die christliche Friedensbewegung der 1980er Jahre habe einen "interkonfessionellen Charakter" (23) gehabt, sei dahingestellt. Hier wäre es nach Auffassung des Rezensenten hilfreich gewesen, zunächst die konfessionellen Elemente in den Blick zu nehmen. So bleibt etwa die Unterscheidung zwischen Religion und Amtskirche, die sich aus der vom Autor konstatierten "dialektischen Beziehung" der christlichen Friedensakteure zu ihren Kirchen ergab, in Bezug auf die katholische Kirche fragwürdig. Pax Christi war, trotz aller Spannungen, die es mit den Bischöfen geben konnte, die offizielle katholische Friedensbewegung, so dass ein Diözesanbischof in der Regel Präsident der Bewegung war und sie in Teilen aus Geldern der Diözesen finanziert wurde. Ebenso bleibt fraglich, warum der Autor trotz der Einsicht, dass die römisch-katholische Kirche im Unterschied zu den protestantischen Kirchen "sich seit jeher als trans- und internationale Institution verstand" (26), diesem Unterschied nicht nachgeht. So bleibt ein bedeutender transnationaler Akteur vollständig ausgeblendet: Der Heilige Stuhl und der Papst persönlich unternahmen in den 1980er Jahren bedeutende Anstrengungen für Frieden und Abrüstung in Europa.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist die wesentliche Erkenntnis dieser Arbeit, dass Frieden keine nationale, sondern eine transnationale Aufgabe war (und ist), vorbehaltlos zu würdigen.

Markus Thurau