David Schick: Vertrauen, Religion, Ethnizität. Die Wirtschaftsnetzwerke jüdischer Unternehmer im späten Zarenreich (= Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit; Bd. 11), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 202 S., 7 Tbl., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31049-6, EUR 60,00
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Seit dem Ende des Kalten Krieges und der Rückkehr des Nationalismus ist dessen lange Vorgeschichte auch zu einem erneuten Gegenstand historischer Forschung geworden. Doch während die Geschichtswissenschaft sich verstärkt den Erscheinungsformen ethnischer Gewalt im Zuge des Verfalls der multinationalen Imperien Ostmitteleuropas zuwandte, sind die sich gleichzeitig ausbildenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen nur marginal untersucht worden. Und doch ist in den letzten Jahren ein Wandel der Forschung zu beobachten, die zusehend die Aushandlung von Kooperation und gegenseitigem Vertrauen in Geschäftsbeziehungen als Thema entdeckt hat. [1] Auch die in München abgeschlossene Dissertation von David Schick entspricht dieser Tendenz, in der der Autor seinen Blick nun auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des späten Zarenreichs richtet. Wie haben Herkunft und Zugehörigkeit die Entstehung von ökonomischen Netzwerken beeinflusst und welche Rolle spielten sie bei der Ausbildung des für Geschäftsbeziehungen unerlässlichen Vertrauens? Diesen Fragen geht der Autor entlang der Geschichte von drei jüdischen Unternehmerbiographien in Lodz, Wilna und Odessa nach und thematisiert den Zusammenhang von ethnischer Zugehörigkeit und ökonomischen Vertrauen in der Zeit von 1855 bis 1914. Sein mikrohistorischer Zugriff erlaubt es ihm einerseits, die Vielschichtigkeit jüdischer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im Imperium der Romanows abzubilden und andererseits einen faszinierenden Einblick in die politischen und ökonomischen Verhältnisse des späten Zarenreichs insgesamt zu bieten.
Den Anfang macht Schick mit einer Fallanalyse der Geschäftsbeziehungen des in Lodz ansässigen Textilfabrikaten Markus Silberstein. Dabei fokussiert er die Frage, "inwiefern Silbersteins ethnische und religiöse Zugehörigkeit seine wirtschaftlichen Netzwerke prägte." (33) Wie in seinen weiteren Kapiteln richtet Schick den Blick zuerst auf Geschichte und Sozialstruktur des urbanen Handlungsraums. Als "neue Stadt in einem alten Land" war die Industriemetropole ganz dem 19. Jahrhundert entsprungen, in dessen Verlauf die Bevölkerung von wenigen Hundert Einwohnern auf ca. 300.000 anwuchs. Schnell war das Zentrum der Textilindustrie zum Anziehungspunkt von Deutschen, Polen und Juden geworden und erlangte als "Stadt der Völkerbegegnung" und das "Manchester des Ostens" Bekanntheit. (36f.)
Entlang der Auswertung von Silbersteins Buchhaltungsunterlagen und dessen Engagement innerhalb der jüdischen Gemeinde, zeichnet Schick ein durchaus differenziertes Bild von der Bedeutung ethnisch-religiöser Herkunft für die sozialen und ökonomischen Beziehungen des Lodzer Unternehmers. Denn während Silberstein stark in der jüdischen Gemeinde verankert war und sich der karikativen Fürsorge (Zedaka) verpflichtet fühlte, reichen seine Wirtschaftsbeziehungen in der Stadt weit über ein jüdisches Unternehmernetzwerk hinaus. Für Silberstein, so Schick, "spielte die ethnische Zugehörigkeit seiner Geschäftspartner auf lokaler Ebene kaum eine Rolle." (176) Deutlicher noch wird diese Tendenz im überregionalen und internationalen Verkehr. Während deutsche Unternehmer der Lodzer Textilindustrie hier vorrangig deutschen Unternehmern vertrauten (72), sah sich Silberstein durch seine lokalen Erfahrungen geradezu ermutigt, "auch seine internationalen Geschäftsnetzwerke auf Nicht-Juden auszuweiten." (176) Vertrauen gründete für ihn nicht auf gemeinsamer Herkunft.
Andere Fragen werden im zweiten Kapitel an die Wirtschaftsgeschichte der Juden in Wilna gerichtet. Von Schick als "alte Stadt in einem alten Land" (85) apostrophiert, kam dem "Jerusalem Litauens" mit seiner 400 Jahre alten Gemeinde und als Heimstätte des "Gaon von Wilna" ein fester Platz im jüdischen Gedächtnis zu. Auch nach Modernisierung und Säkularisierung bewahrte die Stadt diese Strahlkraft. Sie wurde Gründungsort des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes im Jahre 1897. Aus der "erheblichen Bedeutung traditioneller Normen und Gebräuche" (85) im jüdischen Gemeindeleben vor Ort ergibt sich auch der spezifische Zugriff, den Schick für die Frage nach Vertrauen in sich professionalisierenden Wirtschaftsbeziehungen der Stadt wählt. Statt nach außen - auf das Verhältnis von Juden und Nichtjuden -, wird der Blick ganz auf die innerjüdische Dynamik ökonomischer Vertrauensbeziehungen gerichtet, um dadurch den "Friktionen zwischen einer traditionellen Werteordnung und neuen moralischen Vorstellungen" nachzuspüren, "die der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierung entsprangen" (94).
Im vielleicht spannendsten Teil seiner Arbeit untersucht Schick dafür die Tabakfabrik des jüdischen Familienunternehmens G. und L. Edelstein. Er beschreibt die Dynamik des Arbeitskonflikts, der im Jahre 1895 das Unternehmen lahmlegte. Doch auch wenn es ursprünglich soziale Forderungen waren, mit denen sich die mehrheitlich jüdischen Arbeiter gegen Stellenabbau und Kosteneinsparungen erhoben, zeugten die Auseinandersetzungen bald schon von einer von Tradition und kollektiver Verantwortung getragenen Rhetorik (103-109). Zuerst bemängelten die Arbeiter, die Edelsteins kämen ihrer sozialen Verpflichtungen als Juden und Angehörige der Gemeinde nicht mehr nach. Der um Vermittlung suchende Maggid (Wanderprediger) der Stadt begründete seinen Ruf nach einem Ende des Streiks wiederum mit der Wahrung einer "national-religiösen Einheit der Juden" (104). Dass die Arbeiter ihren Protest zuletzt bis in die Synagoge und auf die Bima - den erhöhten, der Thora-Lesung vorbehaltenen Bereich - trugen, wird Schick schließlich zum Beleg, wie sich "die Beschäftigten noch an traditionellen Mustern orientierten", während "die Arbeitgeber einem modernen Kalkül" folgten (109). Doch gleichwohl die Edelsteins nach dem Ende des Streiks versuchten, ihre jüdischen Arbeiter durch russische Arbeiterinnen zu ersetzen, "um die ethno-religiös basierten und traditionell etablierten Bindungen endgültig zu kappen" (111), blieben alle Bemühungen einer Modernisierung ihrer Tabakfabrik erfolglos. Negative Gerüchte, die innerhalb von Wilna das ohnehin beschädigte Vertrauen in die Gebrüder Edelstein weiter unterminierten, bereiteten ihrem Unternehmen schließlich ein Ende.
Gänzlich anders lagen die Verhältnisse im ukrainischen Odessa, dem dritten Fallbeispiel der Studie (127-174). Immerhin entsprach die erst 1794 gegründete Hafenstadt am Schwarzen Meer gleichsam einer "neue[n] Stadt in einem neuen Land" (127), die auch für die Juden eine ganz "unhistorische Stadt" (Simon Dubnow) ohne Tradition war. Sie wurde deshalb zum Zentrum einer modernen russischsprachigen jüdischen Intelligenzija. Als rasant wachsende Metropole des Getreidehandels war sie mithin für eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zum Anziehungspunkt geworden, die der Stadt ihre ebenso modernen wie pluralen Charakter verlieh.
Vor dem Hintergrund dieser "supraethnischen Vergemeinschaftung" (139) des urbanen Raums, geht Schick dem Charakter von wirtschaftlichen Vertrauensverhältnissen nach. Auf Grundlage der Erinnerung Moses Lissianskys, der einzigen überlieferten Autobiographie eines jüdischen Unternehmers im Zarenreich (18), fragt er, "ob auch in der Mittelschicht soziale Kontakte über ethnische Grenzen hinweg existierten und inwiefern dies die geschäftlichen Beziehungen beeinflusste." (140) Den Erinnerungen des erfolgreichen Schuhfabrikanten kann Schick aber nicht nur entnehmen, dass dessen rege Teilnahme am städtischen Leben in Odessa ihren Niederschlag auch in den Geschäftsbeziehungen fand, die ein breites Netzwerk mit der nicht-jüdischen Bevölkerung der Hafenstadt, aber auch des Zarenreichs zu erkennen gaben. Ungleich stärker bezeugen Lissianskys Erinnerungen den Einbruch außerökonomischer Faktoren in die Wirtschaftsbeziehungen und die existenzielle Zerstörung von Vertrauensverhältnissen. Odessa war schließlich nicht nur eine prosperierende multinationale Hafenmetropole, sondern auch ein Zentrum moderner Judenfeindschaft. Die zyklische Wiederkehr antijüdischer Gewalt rief bei Lissiansky eine derart tiefe Verunsicherung hervor, dass er die Stadt im Gefolge der großen Pogrome vom Februar 1905 schließlich gen Wien verließ. Auch das gehört zu Schicks Erzählungen über die Relation von Vertrauen, Ethnizität und Religion im späten Zarenreich.
Diese vielschichtige Perspektive auf die Bedeutung von Vertrauen in wirtschaftlichen Beziehungen, die den Blick immer wieder zwischen innerjüdischen und supraethnischen Verhältnissen hin- und herwechseln lässt, macht den Erkenntnisgewinn von Schicks Untersuchung aus. Auch wenn Aufbau und Darstellung seiner Arbeit konservativ anmuten, liefert sein Buch einen innovativen Beitrag für die Erforschung jüdischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte und des Russländischen Imperiums im Allgemeinen.
Anmerkung:
[1] Vgl. etwa Stefanie Fischer: Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken (1919-1939), Göttingen 2014.
Lutz Fiedler