Émilie Nadal: Le Pontifical de Pierre de la Jugie. Le Miroir d'un Archevêque (= Manuscripta Illuminata; Vol. 3), Turnhout: Brepols 2017, 480 S., 39 Farb-, 196 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-57468-4, EUR 125,00
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1347, mit nur 26 Jahren wurde er an die Spitze eines der reichsten Bistümer Frankreichs katapultiert, wofür weniger außerordentliche Begabung denn außerordentlich gute Kontakte verantwortlich gewesen sein dürften. Sein Amt verdankte Pierre de la Jugie seinem Onkel, dem seit 1342 in Avignon regierenden Clemens VI. Wie dieser trat auch der um 1321 geborene Pierre sehr jung in den Benediktinerorden ein und erhielt zunächst einträgliche Priorate, die ihm ein Rechtsstudium in Orléans ermöglichten, das er 1344 mit dem Doktorgrad abschloss. 1345 erfolgte die Ernennung zum Bischof von Zaragoza, nur zwei Jahre später wurde er Erzbischof von Narbonne. Seinem Bischofssitz blieb er 28 Jahre lang treu. 1375 wurde er Kardinal - eine Würde, an der er sich nur kurz erfreuen konnte: Pierre de la Jugie starb 1376. Er gehörte zu den großen Mäzenen des Midi. 1350 gab er ein Pontifikale in Auftrag, das noch heute zu den größten Schätzen der Kathedrale von Narbonne zählt. Diese Luxushandschrift, zunächst zum Gebrauch durch Pierre de la Jugie selbst bestimmt, darüber hinaus aber mit der Absicht gefertigt, seinen Episkopat auf glanzvolle Art und Weise in die nicht weniger glanzvolle Geschichte des Bistums Narbonne einzuschreiben, umfasst 24 Miniaturen, 61 historisierende Initialen, eine den Raum einer ganzen Seite einnehmende Malerei und eine Fülle von schmückendem Rankenwerk an den Rändern.
Die Frage danach, inwieweit Auftraggeber wie der Narbonner Erzbischof Zusammenstellung und künstlerische Ausgestaltung der von ihnen in Auftrag gegebenen Handschriften bestimmten bzw. beeinflussten und welche übergeordneten kirchen- und frömmigkeitspolitischen Ziele sich damit verbanden, beantwortet Émilie Nadal im vorliegenden Band, hervorgegangen aus ihrer am Pariser Institut de recherche et d'histoire des textes (IRHT) entstandenen Dissertation. Denn vieles lässt sich ausgehend vom Pontifikale über die Entstehung von Handschriften im Midi und das Milieu ihrer kurialen Auftraggeber in Erfahrung bringen.
Die Arbeit umfasst fünf große Kapitel (I. Pierre de la Jugie; II. La bibliothèque de Pierre de la Jugie; III. Histoire du Pontifical de Narbonne; IV. Étude du texte et de l'illustration du Pontifical; V. Partages et échanges entre les artistes), auf die eine knappe Zusammenfassung folgt (307-319).
Der biographische Abriss, insbesondere die Analyse des Testaments, fügt dem bisher bekannten Bild des Narbonner Oberhirten weitere wichtige Mosaiksteinchen hinzu. Sein Testament fasste er im November 1376 ab. Die Summe, die dabei zur Verteilung kam, lag mit 15.000 Goldflorin klar über dem, worüber ein avignonesischer "Durchschnittskardinal" ansonsten verfügen konnte. Unter der Verteilmasse befanden sich auch 126 Handschriften. Welchen Stellenwert Pierre de la Jugie diesen Büchern zuwies, zeigt zum einen ihre Positionierung innerhalb des Testaments - sie werden ganz weit oben aufgeführt -, zum anderen die Exklusivität des Empfängerkreises: das Domkapitel (50), die Abtei von Lagrasse (25), die Kapelle Saint-Martial in Narbonne (25) und das Collège de Narbonne in Paris (25), Institutionen, denen sich der Bischof im Laufe seines Lebens eng verbunden gefühlt hatte. Von diesem Bücherschatz sind aktuell nur acht Handschriften nachweisbar, verteilt auf die Bibliotheken in Narbonne, Avignon, Paris, Reims und dem Vatikan.
Eine extensive Bautätigkeit und ein ebenso extensives Mäzenatentum zeugen vom Willen des Bischofs, sich in die memoria von Stadt und Bistum einzuschreiben: der Bischofspalast, sein Grabmal in der Kathedrale und schließlich auch das Pontifikale sind hierfür untrügliche Zeichen. Völlig zu Recht wird er "dans la lignée du fastueux Clément VI" (43) verortet, was angesichts der engen Verwandtschaftsbeziehungen auch nicht weiter erstaunt. Von Pierres eigener literarischer Tätigkeit ist mit Ausnahme einiger weniger Zeilen einer anlässlich der Kanonisation des Hl. Ivo 1347 gehaltenen Predigt nichts überliefert.
Von der alten Handschriftenherrlichkeit hat sich in Narbonne nur wenig erhalten, das 1350 entstandene Pontifikale freilich gehört dazu. Ganz unbeschadet hat der Band die Zeitläufte nicht überstanden: zwischen 1897 und 1925 wurden 20 prächtige Initialen herausgetrennt, von denen sich drei heute in der École nationale supérieure des Beaux-Arts befinden. Der Aufenthaltsort von drei weiteren Miniaturen ist immerhin bekannt, der Rest gilt als verschollen.
Auf fol. 12v "spricht" Pierre de la Jugie in einer Art Vorwort zu den Benutzern und erläutert die einzelnen Teile des 185 Seiten umfassenden Pontificale: 1. die in der Kirche von Narbonne gefeierten Feste samt Kalender; 2. die Benediktionen von Personen; 3. die Benediktionen von Dingen; 4. die Benediktionen im Rahmen besonderer Gottesdienste.
Zu den Spezifika des Textes, vor allem zur Verbindung von Bild, historischem Kontext und eigentlichem Text in der Handschrift hat Nadal sehr viel Erhellendes zu sagen. Die Anzahl der Feste (354) samt ihrer Verteilung auf einzelne Tage (232) zeugt vom regen liturgischen Leben an der Kathedrale. Bemerkenswert ist die Aufnahme des am 19. Mai gefeierten Gedenktages für den Hl. Ivo, auf dessen Fürsprache hin der Bischof von einer schweren Krankheit gesundet sein soll. Auch der "Apostel" des Limousin, der Hl. Martial, wurde mittels eines festum duplex gewürdigt. Nadal sieht im Pontifikale "une compilation d'ordines", "un livre fonctionnel destiné à aider l'évêque dans sa charge" und angesichts seiner Dimensionen, vor allem aber angesichts der künstlerischen Ausgestaltung "un livre d'apparat à haute valeur symblique" (192). Und tatsächlich liegt der symbolische Wert dieses "maßgeschneiderten Pontifikale" ("un pontifical sur mesure"), das in wesentlichen Zügen auf dem Pontifikale des Guillaume Durand vom Ende des 13. Jahrhunderts beruht, auf der Hand. Es zeugt von der bischöflichen Amtsgewalt im Allgemeinen, derjenigen des Pierre de la Jugie im Besonderen. Anders als bei Durand spielen im vorliegenden Pontifikale jedoch die Eide, die dem neuen Metropoliten von seinen Suffraganen bei Amtsantritt geleistet werden müssen, eine große Rolle - und dies nicht von ungefähr, hatten sich doch einige Bischöfe, an der Spitze derjenige von Carcassonne, 1349 mit Verweis auf ihre eigene Ernennung durch den Papst geweigert, "ihrem" Metropoliten einen Treueid zu leisten.
Wohl nicht weniger als 151 historisierende Initialen sollten ursprünglich die Handschrift schmücken - 67 sind heute bekannt: "C'est un cycle enluminé considérable, contre lequel peu de pontificaux peuvent rivaliser" (205). Vier Künstler bzw. vier unterschiedliche Ateliers arbeiteten an der Handschrift (graphisch wird dies S. 250 eindrucksvoll illustriert). Nadal geht aber nicht nur auf die Spezifika der vier Ateliers, sondern auch auf ihre Vorbilder und auf die gegenseitigen Abhängigkeiten ein. Trotz deren unterschiedlicher stilistischer Prägungen präsentiert sich die Handschrift als Werk aus einem Guss, in dem zwar jeder seinen eigenen Teil gestaltete, dabei aber stets das große Ganze im Auge behielt. Die Namen der Künstler sind nicht bekannt, weshalb man sich mit Hilfskonstruktion der Art "Maître de Pierre de Saint-Martial" zufrieden geben muss. Ein aus Katalonien stammender Miniaturist demonstrierte sein Können insbesondere in der Ausgestaltung der Ranken und Grotesken an den Seitenrändern. Die einzelnen Charakteristika der Miniaturisten analysiert Nadal gekonnt und aufgrund der beigegebenen Schwarz-Weiß Abbildungen ist das Ganze auch sehr gut nachvollziehbar. Von der Qualität des Bildschmucks kann man sich des Weiteren anhand von 39 hochwertigen Farbabbildungen am Ende des Bandes überzeugen.
Auf den Haupttext folgen einige illustrierende Anhänge (I. Vita des Bischofs in Stichpunkten; II. Beschreibung der erhaltenen Handschriften aus seinem Besitz; III. Beschreibung seiner in Gerona verwahrten Handschriften; IV. vergleichende Schaubilder der in Narbonne gebräuchlichen liturgischen Kalender; V. Index der im Pontifikale genannten Feste), an die sich Indices der Personen- und Familiennamen und der mittelalterlichen Handschriften anschließen. Für das Literaturverzeichnis gilt leider: Germanica non leguntur.
Vorliegender Band präsentiert auf überzeugende Art und Weise die Geschichte einer Handschrift ebenso wie die ihres Auftraggebers und der Zeit, in der er sich bewegte: " [...] l'histoire d'un seul homme et de son manuscrit devient le reflet toujours intact d'un temps qui alliait étroitement l'art, le sacré et le pouvoir." (315) Obwohl kunstgeschichtlich konzipiert, richtet sich die Arbeit auch an Historiker, vor allem an solche, die sich mit dem Phänomen des Avignonesischen Papsttums auseinandersetzen. Sie werden aus der Lektüre des Bandes reichen Gewinn davontragen.
Ralf Lützelschwab