Uwe Krähnke / Matthias Finster / Philipp Reimann / Anja Zschirpe: Im Dienst der Staatssicherheit. Eine soziologische Studie über die hauptamtlichen Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes, Frankfurt/M.: Campus 2017, 323 S., ISBN 978-3-593-50522-0, EUR 34,95
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Die vorliegende Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Täterforschung in Diktaturen. Vier Soziologen haben dabei den Schwerpunkt auf das Selbstverständnis der MfS-Angehörigen und das "kaderpolitische" Innenleben der Geheimpolizei der SED-Diktatur gelegt. Die Quellengrundlage bilden Interviews, die die Autoren mit ehemaligen MfS-Offizieren führen konnten. Anhand zehn anonymisierter und ausführlich aufbereiteter Interviews werden Rückschlüsse auf einen großen Teil der im MfS vorherrschenden "Erwerbsbiographien" gezogen. Leider lässt sich nicht vollständig nachvollziehen, wie viele von den etwa 70 Gesprächen in die Studie eingeflossen sind.
Methodisch greift das Autorenquartett auf das Instrumentarium der "Interpretativen Soziologie" zurück. Dieser Forschungsansatz geht von der Annahme aus, dass die Ausführungen der Interviewpartner auch Jahrzehnte später - trotz lückenhafter Erinnerungen und beabsichtigter oder unbeabsichtigter Verzerrungen - ihre Haltung und Wahrnehmung während ihrer Tätigkeit im MfS prinzipiell widerspiegeln. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, wie sich Motivation, Wertevorstellungen und Lebensführung der MfS-Mitarbeiter mit den institutionellen Rahmenbedingungen deckten.
Systematisch werden Rekrutierungspraxis, Dienstlaufbahnen und Karrierewege, Aufstiegschancen und Karrierestaus, Einkommenssituation und Privilegien, Dienstalltag und Privatleben untersucht. Die Autoren gehen auch auf die Motive für eine geheimpolizeiliche Karriere ein. Den Ausschlag gaben meist zwei Motivlagen: die "politisch-ideologische Wertbindung" und eine "individuelle Sicherheits- und Wohlstandsorientierung", die in unterschiedlichem Ausmaß Menschen dazu bewogen, sich für einen hauptamtlichen Dienst im MfS zu verpflichten.
In den Blick genommen werden die Kontrolle, Disziplinierung und Selbstdisziplinierung der Mitarbeiter und ihr "tschekistischer Habitus". Zu den Untersuchungsfeldern gehören auch sozialhistorische Kategorien wie unterschiedliche Prägungen durch Geschlecht, Altersunterschiede und Generationenzugehörigkeit sowie nicht zuletzt der mit der Auflösung der Stasi verbundene Verlust beruflicher Sicherheiten und weltanschaulicher Perspektiven. Auch wird der Frage nachgegangen, wie sich die Tschekisten nach dem Untergang der SED-Diktatur in der freiheitlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland zurechtgefunden haben.
Die Autoren entwerfen ein einzigartiges Sittengemälde einer Institution, die es im entscheidenden historischen Moment Ende 1989 nicht vermochte, als "Schild und Schwert" den Fortbestand der SED-Diktatur zu sichern. Der Leser gewinnt den Eindruck, beim Staatssicherheitsdienst der DDR habe es sich um einen Behördenapparat gehandelt, der in hohem Maße ideologisch geprägt und der SED-Parteibürokratie untergeordnet war. Vielen interviewten Tätern scheint bis heute nicht klar geworden zu sein, welche Ziele der SED sie mit ihrer "Verwaltungstätigkeit" durchsetzten.
Die Studie erweitert unsere Kenntnisse über das Selbstverständnis der MfS-Offiziere wesentlich. Sie ist eine unverzichtbare Grundlage für weitere Forschungen. Dabei sollten folgende Punkte im Vordergrund stehen: Erstens: Spiegelt die IM-Statistik Umfang und Intensität der Überwachungsmaßnahmen überhaupt vollständig wider? Sollten die Andeutungen eines befragten ehemaligen MfS-Offiziers tatsächlich zutreffen, dann wurden in größerem Ausmaß Inoffizielle Mitarbeiter (IM) erfunden, um die Erwartungen von Vorgesetzten zu erfüllen. Diesen Hinweisen gilt es nachzugehen.
Zweitens: In welchem Ausmaß waren die "Kämpfer an der unsichtbaren Front", als die sich einige MfS-Angehörige heute immer noch sehen, chronisch überlastet und wie wirkte sich das auf ihren Arbeitsalltag aus? Ein befragter MfS-Mitarbeiter, der dreieinhalb Jahre als Vernehmer tätig war, beklagt den hohen Zeitdruck, dem er beim Verfassen der Verhörprotokolle ausgesetzt gewesen sei. Allerdings stellen die Autoren quellenkritisch heraus, dass der Stasioffizier dabei den Druck ignoriert, unter dem die verhörten Häftlinge standen: Die meist speziell geschulten Offiziere sollten in den sogenannten Erstvernehmungen von den Inhaftierten Geständnisse oder Aussagen erpressen. Dabei galt es, möglichst wenig Zeit zu verlieren und den Schock auszunutzen, unter dem die Häftlinge standen: über die Verhaftung, über die Unsicherheit darüber, wie die Stasi mit ihnen verfahren würde, vor allem aber über die menschenunwürdige Behandlung durch das Wachpersonal, die sie während der Einlieferung in die Untersuchungshaftanstalten des MfS über sich ergehen lassen mussten.
Drittens: Wichtig ist auch, die konkreten Aufgaben und Tätigkeiten zu untersuchen, die den dienstlichen Alltag der Stasi-Mitarbeiter prägten und die oft in den Interviews verschwiegen werden: die Organisation und Durchführung der Bespitzelung, die Planung und Umsetzung von perfiden "Zersetzungsmaßnahmen", die Praktiken der operativen Psychologie beim Verhör von Häftlingen und die Einflussnahme auf die Justiz - um nur einige Beispiele herauszugreifen. Nur wenn diese Gesichtspunkte aufgearbeitet werden, kann dem in einigen Interviews aufscheinenden unzutreffenden Eindruck entgegengetreten werden, das MfS habe sich eigentlich nur selbst verwaltet.
Die Studie schließt eine wichtige Forschungslücke. Die Täterforschung erhält Anstöße, denen nachzugehen sich lohnt. Jedem Wissenschaftler, der sich mit der Geschichte des MfS befasst, steht nun neben dem Standardwerk von Jens Gieseke eine weitere Arbeit zur Verfügung, an der kein Weg vorbeiführt. [1]
Anmerkung:
[1] Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950-1989/90, Berlin 2000.
Stefan Donth