Charles S. Maier: The Project-State and Its Rivals. A New History of the Twentieth and Twenty-First Centuries, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2023, xiii + 510 S., ISBN 978-0-674-29014-3, GBP 37,95
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Mit The Project-State and Its Rivals legt Charles S. Maier eine weitere Studie zur Vermessung des modernen Staates vor. Anders als in seinen früheren Büchern Leviathan 2.0: Inventing Modern Statehood (2005) und Once Within Borders: Territories of Power, Wealth, and Belonging since 1500 (2015) stehen in seinem neuesten Werk weniger die Beziehungen zwischen Raum bzw. Territorium und Staat im Zentrum der Analyse, sondern vier verschiedene Kollektivakteure, die seiner Ansicht nach die politische und wirtschaftliche Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben. Mit diesem Ansatz möchte er zwei verbreitete Interpretationen des 20. Jahrhunderts überwinden und miteinander verzahnen: die an politischen Zäsuren (1933, 1945, 1989) orientierte Erzählung, die das Jahrhundert als Auseinandersetzung zwischen Demokratien und Autokratien beziehungsweise als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Weltanschauungen beispielsweise als "Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm) deutet sowie neueren Studien, die in der transnationalen kapitalistischen Vernetzung der Welt bzw. in Globalisierungsprozessen das Signum der Epoche sehen.
Stattdessen schlägt Maier vor, das 20. und 21. Jahrhundert als einen Zeitraum zu verstehen, der maßgeblich durch Interdependenzen zwischen vier Akteursgruppen geprägt war. Hierzu zählt er erstens den "Project-State". Maier definiert diesen als Staat, der politische Projekte verfolgte, die nicht nur darauf abzielten Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Menschen im eigenen Staatsgebiet tiefgreifend zu transformieren, sondern der darüber hinaus auch geschichtsphilosophisch den Anspruch hatten, den Lauf der Geschichte zu verändern. Diese Veränderungen konnten durch Revolutionen oder umfangreiche Reformen erreicht werden und zielten u.a. auf den Ausbau von Sozialstaatlichkeit oder von Bildungssystemen, die Mobilisierung bzw. Vertreibung von Menschenmassen, die Veränderung von Sozialbeziehungen oder die Schaffung eines neuen Menschen. Ideologisch waren diese Modernisierungsregime nicht gebunden, sie konnten sich mit faschistischen, kommunistischen oder (sozial-)demokratischen Ideen verbinden und auf deren Umsetzung abheben. Schließlich betont Maier, dass nicht alle Staaten "Project-States" waren und diese nicht dauerhaft solche sein mussten. Der Anspruch, ihre eigene Gesellschaft tiefgehend zu transformieren, konnte nachlassen, was in den meisten Fällen seit den 1970er Jahren auch geschah, womit sie graduell zum zweiten seiner Kollektivakteure wurden: dem "Resource Empire".
Unter "Resource Empire" versteht Maier ebenfalls eine territorial verfasste politische Einheit, die einen Souveränitäts- und Herrschaftsanspruch über ein bestimmtes Gebiet, die sich darin befindliche Bevölkerung und Ressourcen erhob, allerdings ohne das Ziel zu verfolgen, die Gesellschaft im Herrschaftsbereich grundlegend zu verändern. Als historische Beispiele hierfür nennt er das japanische und die europäischen Kolonialreiche sowie westliche Staaten, die im Laufe des Jahrhunderts aufgehört hatten, politische Großprojekte zu verfolgen. Dass den Project-States hierfür die Kraft ausging hatte je nach konkretem Fall unterschiedliche Gründe. Insbesondere für die westlichen Staaten sieht er seit den 1970er Jahren die Hauptursachen darin, dass diese ihren Anspruch aufgaben, das Leben aller Menschen in ihrem Einflussbereich zu verbessern. Stattdessen ersetzten sie sozialstaatliche Projekte durch das engere Ziel Wirtschaftswachstum, womit soziale Ungleichheiten zunahmen und der Project-State an Legitimität und gesellschaftlicher Unterstützung verlor. An die Stelle von politischen Staatsprojekten traten Parlamentsmüdigkeit, Profitmaximierung und Populismus. Mit Blick auf den transatlantischen Raum legt Maier eine bedenkenswerte Interpretation der letzten 50 Jahre vor.
Diesen beiden räumlich begrenzten Kollektivakteuren stellt Maier zwei transnationale, tendenziell globale Akteursgruppen gegenüber: das "Realm of Governance" und das "Web of Capital". Unter ersterem versteht er internationale Organisationen wie den Völkerbund, die Vereinten Nationen, die WHO sowie NGOs wie Amnesty International oder Greenpeace, die internationale (rechtliche) Abkommen und globalen Initiativen beispielsweise im Bereich der Weltgesundheitspolitik hervorgebracht hatten, die wiederum auf die Handlungsspielräume der territorial verfassten Akteure rückwirkten. Dies gilt auch für die kapitalistischen Netzwerke, worunter Maier vor allem transnational agierende Unternehmen wie zum Beispiel General Motors, Ford, Bayer, Unilever oder auch Siemens subsumiert. Diese vier Kollektivakteure konnten sich nach Maier nun im 20. und 21. Jahrhundert miteinander verzahnen, Dynamiken entfachen und groß angelegte Projekte umsetzen oder sich gegenseitig blockieren und ausbremsen. Konzeptionell sind diese Überlegungen anregend und es scheint mir lohnenswert, ihnen weiter nachzugehen.
Die Umsetzung dieser Konzeption fällt demgegenüber bemerkenswert konventionell aus. Sein Buch ist in drei chronologische Teile gegliedert, in denen er zu Beginn mit Rückgriffen ins 19. Jahrhundert und später mit leichten Überlappungen die Zwischenkriegszeit, dann die Zeit zwischen den 1940er und 1960er Jahren und abschließend die Zeit seit den 1970er Jahren behandelt. Innerhalb dieser drei Teile werden in kenntnisreichen Unterkapiteln jeweils nacheinander die Entwicklungen und Ausprägungen der vier Kollektivakteure beschrieben. In diesen schon fast handbuchartigen Zusammenfassungen lassen sich beispielsweise zentrale Entwicklungen der Weltwirtschaft komprimiert und fundiert nachschlagen. Durch diese Gliederung geraten allerdings die Interdependenzen zwischen den jeweiligen Kollektivakteuren in den Hintergrund. Wie sie sich gegenseitig dynamisieren oder ausbremsen, wie sie sich aneinander reiben und Kompromisse aushandeln, bleibt trotz der immer wieder eingefügten Querverweise ebenso vage wie das Gewicht, das den einzelnen Akteuren in bestimmten Zeitabschnitten oder bei konkreten Entwicklungen zukam.
Für eine neue Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts steht schließlich der transatlantisch-europäische Raum zu sehr im Zentrum - auch im Vergleich zu anderen Versuchen, das 20. Jahrhundert zu interpretieren (z.B. James Scott, Seeing like a State oder Eric Hobsbawm, Zeitalter der Extreme). Maier thematisiert die übrigen Weltregionen durchaus, aber bei weitem nicht im gleichen Umfang. Anekdotisch und doch charakteristisch für das Buch zeigt sich dies darin, dass Maier Jimmy Carter auf neun Seiten erwähnt, Otto von Bismarck auf zwei und damit auf mehr als Houari Boumédienne, Indira Gandhi oder Sukarno auf jeweils einer Seite. In den Kapiteln zur transnationalen Governance wird die Europäische Union ausführlich behandelt, wohingegen wichtige Organisationen des Globalen Südens wie die Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) nur knapp und andere wie die Organisation Afrikanischer Staaten, die Bewegung Bündnisfreier Staaten oder BRICS überhaupt nicht vorkommen.
Charles Maier hat anregende konzeptionelle Überlegungen zur Analyse des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Es lohnt sich, weiter darüber nachzudenken, ob sich die Geschichte des Jahrhunderts aus den Wechselwirkungen zwischen den vier von Maier identifizierten Kollektivakteuren interpretieren lässt und welchen Erkenntnisgewinn eine solche Herangehensweise bringen könnte Es liegt eine inspirierende Interpretation des modernen Staates in der transatlantischen Weltregion vor, die sich weniger für die übrige Welt interessiert und Entwicklungen in dieser knapp und konventionell abhandelt.
Jürgen Dinkel