Torsten Diedrich / Jens Ebert (Hgg.): Nach Stalingrad. Walther von Seydlitz' Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpost 1939-1955, Göttingen: Wallstein 2018, 427 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3190-7, EUR 24,90
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"Nach Stalingrad" - der Titel des hier zu besprechenden Buches ist doppeldeutig und eindeutig zugleich: doppeldeutig, weil er sowohl räumlich als auch zeitlich zu verstehen ist, und eindeutig, weil er die Schlacht um die Stadt an der Wolga als entscheidende Zäsur im Leben des Mannes ausweist, um den es geht. Die Rede ist von General der Artillerie Walther von Seydlitz-Kurzbach, der zwischen Juni 1942 und Januar 1943 das LI. Armeekorps der 6. Armee führte, in Gefangenschaft an führender Stelle im Bund Deutscher Offiziere und im Nationalkomitee Freies Deutschland mitarbeitete - und seither vielen Kameraden als eidbrüchiger Verräter galt. Doch der Reihe nach: Walther von Seydlitz wurde am 22. August 1888 in eine bekannte preußische Adelsfamilie hineingeboren, zu deren Ahnengalerie unter anderem der legendäre Kavalleriegeneral Friedrich Wilhelm von Seydlitz oder Florian von Seydlitz zählte, der als Major und Adjutant des Generalleutnants von Yorck Ende 1812 eine Rolle bei den Verhandlungen um die Konvention von Tauroggen gespielt hatte. Der Soldatenberuf war Walther von Seydlitz also gleichsam in die Wiege gelegt - und er wurde ein begeisterter Soldat: als junger Artillerieoffizier im Ersten Weltkrieg ebenso wie als Truppen- und Stabsoffizier in der Uniform der Reichswehr. Aber erst Hitlers Wehrmacht bot dem ehrgeizigen Offizier die Möglichkeiten für eine rasche Karriere: Erst 1930 zum Major befördert, avancierte er bis 1936 zum Oberst und stieg bis zum Sommer 1942 zum General der Artillerie auf, ausgezeichnet mit einigen der höchsten Tapferkeitsmedaillen, die das Deutsche Reich zu vergeben hatte. Als fähiger Truppenführer in den Kriegen gegen Frankreich und gegen die Sowjetunion stand er in der Gunst seiner Vorgesetzten; selbst Hitler wurde nach der erfolgreichen Operation der "Stoßgruppe Seydlitz" zum Entsatz der im Kessel von Demjansk eingeschlossenen deutschen Truppen auf den General aufmerksam.
Sein nächstes Kommando sollte jedoch zugleich sein letztes sein: Als Kommandierender General führte er ein Armeekorps nach Stalingrad, und er führte es in den Untergang. Von Seydlitz hatte sich zwar nach der erfolgreichen sowjetischen Gegenoffensive im November 1942 schon früh und energisch dafür ausgesprochen, entgegen der Weisungen Hitlers aus dem Kessel auszubrechen, aber er fügte sich letztlich seinen Befehlen und geriet schließlich in den letzten Tagen des sinnlosen Kampfes in Kriegsgefangenschaft. Anders als zahllose seiner Soldaten überlebte Walther von Seydlitz, und anders als die meisten seiner Kameraden hatte er Konsequenzen aus den Ereignissen der letzten Wochen und Monate gezogen. Sein Vertrauen in Hitler, ja sein Glaube an den "Führer" war in den Ruinen von Stalingrad verbrannt, und er machte ihn zusammen mit seinem Führungsstab für die Katastrophe verantwortlich. Auf diesem Nährboden wuchs seine Bereitschaft, aus der Kriegsgefangenschaft heraus gegen das NS-Regime aktiv zu werden, mit deutschen Exil-Kommunisten und Vertretern der Gewahrsamsmacht zusammenzuarbeiten - und das Odium des Verrats auf sich zu nehmen. Entscheidend für die Zukunftsvorstellungen des Generals waren vier Punkte: ein möglichst rasches Ende des NS-Regimes und ein sichtbarer deutscher Beitrag dazu, ein deutsch-sowjetischer Ausgleich, Garantien für das Deutsche Reich und der Fortbestand deutscher Streitkräfte. Von Seydlitz bezahlte seinen Mut teuer: Das Reichskriegsgericht verurteilte ihn zum Tode und ächtete seine Familie, und als er für die Sowjetunion nicht mehr von Nutzen war, wurde er 1950 wegen Kriegsverbrechen angeklagt und zunächst zum Tode, dann zu 25 Jahren Haft verurteilt. Deutschland - besser gesagt: die Bundesrepublik - sah er erst 1955 wieder, und das Unverständnis und die Verachtung, die ihm hier entgegenschlugen, sollten ihn bis zu seinem Tod im April 1976 nicht mehr loslassen.
Eine gebrochene Biografie also - so gebrochen wie die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts -, eine Biografie, die wiederholt die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft gefunden hat. [1] Wer sich dafür interessiert, kann jetzt in von Sedydlitz' eigenen Worten nachlesen, wie er den Krieg, die Schlacht um Stalingrad und die Kriegsgefangenschaft erlebt hat, zumindest in den Grenzen, die Feld- und Kriegsgefangenenpost setzten. Thorsten Diedrich und Jens Ebert haben 195 Briefe und Feldpostkarten aus dem Nachlass des Generals ediert, die von Seydlitz zwischen 1939 und 1955 zumeist an seine Frau geschrieben hat. Dass sich Diedrich und Ebert gemeinsam dieser Edition angenommen haben, ist ein echter Glücksfall. Der Paulus-Biograf Torsten Diedrich ist ein ausgewiesener Kenner der Materie, und Jens Ebert ist bereits mehrfach mit einfühlsamen Publikationen von Feldpostbriefen wie etwa "Ein Arzt in Stalingrad" hervorgetreten. [2] Zwei ausführliche Texte der Herausgeber rahmen die Edition; Ebert führt in die Quellengattung Feldpostbrief ein und nimmt seine Leser dann mit auf die Reise durch die Erlebnisse, Erfahrungen und Einsichten, wie sie sich aus der Korrespondenz des Generals rekonstruieren lassen. Diedrich hingegen bietet eine biografische Skizze über Walther von Seydlitz, den er mit Verve als "lange verkannte[n] deutsche[n] Patriot[en]" charakterisiert (317). Diese rahmende Zweiteilung ist nicht ungeschickt, weil sie unterschiedliche Perspektiven eröffnet und unterschiedliche Schichten der Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpostkarten freilegt. Allerdings ergeben sich daraus auch einige etwas langatmige Wiederholungen, die den positiven Gesamteindruck aber nicht wirklich trüben können.
Die Korrespondenz des Generals bietet Ansatzpunkte für zahlreiche Forschungsfragen, die von der Politik- und Militärgeschichte bis zur Alltags- und Kulturgeschichte reichen. Was den Komplex Politik- und Militärgeschichte angeht, ist sicher der Weg Walther von Sedydlitz' vom karrierebewussten Offizier, den der Glaube an Hitler mit dem Nationalsozialismus verband, zum Rebellen aus Einsicht und Überzeugung von besonderer Bedeutung. Bruchlinien zwischen von Seydlitz und der politischen Führung lassen sich dabei schon früh erkennen, etwa wenn es um die Person des 1938 unter skandalösen Umständen entlassenen Generalobersten Werner Freiherr von Fritsch oder um das Todesurteil gegen Generalleutnant Graf von Sponeck geht. Ebenso zeigen sich die Konjunkturen von Siegen, militärischen Krisen und Niederlagen sowie das große Vertrauen in den "Führer", das erst im Bunker von Stalingrad zerbröckelte und geradezu ins Gegenteil umschlug. Was in Walther von Seydlitz vor seiner Gefangennahme und in den ersten Wochen der Gefangenschaft vorging, erschließt sich aus den Briefen nicht; der letzte abgedruckte vor dem Ende der Kämpfe in Stalingrad datiert vom 11. Januar 1943, der erste aus der Kriegsgefangenschaft vom 27. Juli 1945. Zensur und Selbstzensur verboten es dem General, manche Dinge anzusprechen, oder sie bewogen ihn dazu, es bei Andeutungen bewenden zu lassen.
Lohnend ist auch ein Blick auf die Stellen, in denen von einer Zukunft nach dem Krieg die Rede ist. 1940/41 schien der Markt der Möglichkeiten nach dem Sieg über Frankreich geradezu unbegrenzt; man müsse jetzt "global denken!!" (145), ja "überdimensional" (148), ließ von Seydlitz seine Frau wiederholt wissen. Im Oktober 1942 schrieb er: "Im übrigen müssen wir uns immer mehr auf ein kolonisatorisches Herrenvolk umstellen." (232) Während seine Gemahlin in diesem Zusammenhang mit einem Leben in den Weiten der eroberten Sowjetunion liebäugelte (der General grüßte sie scherzhaft als "Gouverneuse von Tiflis"; 224), hoffte von Seydlitz, "nicht zu weit in diesen öden Osten" verschlagen zu werden. Er wollte im neuen Europa des "Führers" im "Westen Europas" eingesetzt werden, allenfalls im "Generalgouvernement" oder im Süden und Westen der Ukraine (222). Der Blick des Generals auf die Zivilbevölkerung in der Sowjetunion war entsprechend zwiespältig: Die üblichen Vorurteile ("Kulturell Steinzeit. Seife muß ein vollkommen unbekannter Begriff sein." 157) wechseln sich ab mit Anteilnahme für zwischen die Fronten geratene Frauen und Kinder, die ihn möglicherweise an seine vier Töchter erinnerten, an denen er mit großer Zärtlichkeit hing. Hier wäre noch ein weiterer Aspekt anzusprechen, der über den großen Fragen von Politik, Strategie und Operationsführung oft vergessen wird: der Versuch, eine Art von Familienleben und ehelicher Intimität über große Entfernungen und Monate, ja Jahre der Trennung aufrechtzuerhalten. Aus den einschlägigen Passagen ließe sich einiges über Rollenbilder, Familienideal und Familienalltag in Offizierskreisen herauslesen.
Man mag dieser Besprechung entnehmen, dass der Rezensent dieses Buch mit Gewinn und Vergnügen gelesen hat. Gleichwohl gibt es den einen oder anderen Punkt anzumerken: Ein Literaturverzeichnis fehlt; man muss sich weiterführende Arbeiten aus den Fußnoten zusammensuchen, was nicht sehr benutzerfreundlich ist, aber eher auf den Verlag als auf die Herausgeber zurückfällt. Zudem ist die Kommentierung der Korrespondenz zuweilen etwas sparsam, vor allem dann, wenn es um militärisch-operative Zusammenhänge geht. Schließlich hätte man sich eine etwas ausführlichere editorische Notiz gewünscht, um die edierten Dokumente - die ja nur einen Teil des Bestands darstellen - besser einordnen und verorten zu können. Aber diese Monita trüben den positiven Gesamteindruck ebenso wenig wie manche begriffliche Unschärfen - ist die Charakterisierung "Nur-Soldat" (8) nicht ein Euphemismus? - oder die Frage, inwieweit Walther von Seydlitz auch seine eigene Rolle als willfähriges Instrument des deutschen Vernichtungskriegs an der Ostfront reflektiert hat.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Julia Warth: Verräter oder Widerstandskämpfer? Wehrmachtsgeneral Walther von Seydlitz-Kurzbach, München 2006.
[2] Vgl. Torsten Diedrich: Paulus. Das Trauma von Stalingrad. Eine Biographie, Paderborn u.a. 2008; Jens Ebert (Hg.): Ein Arzt in Stalingrad. Feldpostbriefe und Gefangenenpost des Regimentsarztes Horst Rocholl 1942-1953, Göttingen 2013.
Thomas Schlemmer