Milan Hlavačka / Robert Luft / Ulrike Lunow (Hgg.): Tschechien und Bayern. Gegenüberstellungen und Vergleiche vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München: Collegium Carolinum 2016, XXXIII + 374 S., ISBN 978-3-944396-59-0, EUR 34,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Markus Cerman / Robert Luft (Hgg.): Untertanen, Herrschaft und Staat in Böhmen und im "Alten Reich". Sozialgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit, München: Oldenbourg 2005
Robert Luft / Miloš Havelka / Stefan Zwicker (Hgg.): Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Mitteleuropa. Tschechische Konzepte der Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014
Robert Luft: Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft. Tschechische Abgeordnete und Parteien des österreichischen Reichsrats 1907-1914, München: Oldenbourg 2012
Der hier zu besprechende Band entstand anlässlich der Bayerisch-Tschechischen Landesausstellung 2016/17 in Prag und Nürnberg. Dabei fällt auf, dass er keineswegs nur die tschechisch-bayerischen Gemeinsamkeiten hervorhebt. So schreiben Robert Luft und Milan Hlavačka in der Einleitung von einer nach dem 14. Jahrhundert eher abnehmenden Verflechtung der beiden Länder. Zudem wurde mit einer "transregionalen Verflechtungsgeschichte" (XXIII) ein methodischer Zugang gewählt, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausstellt und sich im Einklang mit der jüngeren Forschung zur Geschichte Ostmitteleuropas befindet. [1] Diese Methode, die Ansätze des historischen Vergleichs und der Transfergeschichte vereint, arbeitet anhand der 18 Beiträge des Bandes drei Verflechtungstypen heraus: Der erste Typus umfasst Prozesse, bei denen sich aus ähnlichen Ausgangslagen gegenläufige Entwicklungen ergaben. Ein zweiter Typus beinhaltet vergleichbare Muster, bei denen aber wechselseitige Interaktion kaum oder gar nicht stattfand. Ein dritter Typ erfasst schließlich eng miteinander verflochtene Prozesse, wobei ein zentraler Impuls von einem der beiden Länder ausging.
Zu jedem Verflechtungstypus sollen im Folgenden - mit den eng verflochtenen Fällen beginnend - zwei Beispiele herausgegriffen werden: Der Beitrag von Jiří Mikulec über Heiligenverehrung im 17. und 18. Jahrhundert behandelt die nach der Schlacht am Weißen Berg von 1620 einsetzende Rekatholisierung Böhmens, die eine Wiederannäherung an die katholischen Nachbarländer bedeutete. Dabei kam es vor allem mit Bayern zu einer wechselseitigen Durchdringung im Bereich religiöser Praktiken. Tschechische Gläubige pilgerten zu den Marienstatuen in Altötting und in Neukirchen am Heiligen Blut. Umgekehrt erfuhr der böhmische Heilige Johannes von Nepomuk in Bayern eine sehr große Popularität. Volker Zimmermann widmet sich der Diskriminierung von Sinti und Roma vom späten 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit. Ein 1926 vom bayerischen Landtag verabschiedetes "Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen" (207) diente als Vorbild für ein 1927 von der tschechoslowakischen Nationalversammlung verabschiedetes Gesetz. Der Autor zeigt auch auf, wie in beiden Ländern wirksame Mechanismen der Stereotypisierung und Kriminalisierung sowie eine schwierige wirtschaftlich-soziale Lage der radikalisierten Gesetzgebung vorausgingen.
Für vergleichbare Phänomene ohne relevante Interaktionen dient der Beitrag von Fabian Schulze zu Bayern und Böhmen im Dreißigjährigen Krieg als ein erstes anschauliches Beispiel. Dabei geht es um den Einfluss föderalistischer Ordnungsmodelle in der Mitte Europas. In Böhmen ergab sich mit der Confoederatio Bohemica von 1619 eine grundsätzliche, wenn auch kurzlebige Neuordnung der Staatsorganisation. Im Königreich Bayern hingegen diente die Assoziation der Reichskreise Bayern, Franken und Schwaben im Jahr 1643 nur der Zusammenarbeit für die Dauer des Krieges. Der Beitrag von Anja Decker und Manuel Trummer vergleicht den gegenwärtigen Strukturwandel in ländlichen Regionen Tschechiens und Bayerns. Den Schrumpfungsprozessen wird auch wegen abweichenden normativen Vorstellungen vom "guten Leben" auf unterschiedliche Art und Weise begegnet. So gilt im westböhmischen Fallbeispiel das seit der sozialistischen Zeit dominierende Doppelverdienermodell als Norm. In Ostbayern fand dagegen eher ein Arrangement mit der Rolle des Mannes als alleiniger Ernährer der Familie statt.
Als Beispiel für divergierende Entwicklungen soll zunächst der Beitrag von Hubertus Seibert über herzogliche Herrschaft im 10. bis 12. Jahrhundert herausgestellt werden. Gemeinsam war den bayerischen und böhmischen Herzögen, dass ihre Autorität auf einem auf Lebenszeit übertragenen Amt basierte. Der bayerische Herzog verdankte seine Würde jedoch ausschließlich dem König, während in Böhmen der Herzog durch den Adel gewählt und vom König bestätigt wurde. Daher emanzipierte sich der Adel in Bayern immer stärker vom Herzog, während er in Böhmen in das herzogliche Regiment eingebunden wurde. Stefan Zwicker nimmt eine Gegenüberstellung der Fußballvereine von Prag und München vor. Trotz ähnlicher struktureller Voraussetzungen der beiden Städte waren die Prager Vereine Sparta und Slavia in der Zwischenkriegszeit national und international klar erfolgreicher, was sich aber spätestens in den 1970er-Jahren deutlich änderte. Entscheidend dabei waren vor allem die von einer Kommerzialisierung begleiteten sportlichen Erfolgen des FC Bayern München.
Eine der Stärken des Bandes liegt in seinem sozialgeschichtlichen Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Neben "Zigeunerpolitik" und ländlichem Strukturwandel werden auch die Judengesetzgebung und die Armenfürsorge in Tschechien und Bayern verglichen. Dies ist eine sinnvolle Ergänzung zu den Beiträgen zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit, die, aufgrund der Quellenlage wohl unvermeidlich, von einer Elitenperspektive geprägt sind. Etwas vage bleibt mancherorts jedoch der Einbezug übergeordneter äußerer Faktoren, deren Relevanz in der Einleitung noch betont wird. Hinsichtlich der Bezugnahme auf einen "europäischen Kontext" hätte genauer ausgeführt werden sollen, wo Tschechien und Bayern im gesamteuropäischen Vergleich stehen. Insgesamt stellt der Band eine breite Gesamtschau vergleichender Forschungen zur tschechisch-bayerischen Geschichte dar. Der Ansatz einer "transregionalen Verflechtungsgeschichte" könnte auch auf andere ostmitteleuropäische Fallbeispiele übertragen werden.
Anmerkung:
[1] Dietmar Müller / Adamantios Skordos (Hgg.): Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas, Leipzig 2015.
Niklas Zimmermann