Elisabeth Fendl (Hg.): Der Sudetendeutsche Tag. Zur demonstrativen Festkultur von Heimatvertriebenen (= Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa; Bd. 21), Münster: Waxmann 2019, 317 S., ISBN 978-3-8309-4081-4, EUR 34,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Sudetendeutsche Tag wird seit 1950 von der Sudetendeutschen Landsmannschaft veranstaltet und ist, wie Werner Mezger in seinem einleitenden Beitrag schreibt, das mit Abstand spektakulärste Massentreffen von Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihren Siedlungsgebieten im östlichen Europa vertrieben wurden. Die jährlichen Treffen haben in Deutschland und darüber hinaus das öffentliche Bild über die deutschen Heimatvertriebenen geformt. Somit wird deutlich, weshalb der Sudetendeutsche Tag Thema der Jahrestagung des Freiburger Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE) von 2017 war, aus welcher der vorliegende Konferenzband hervorging.
Das Phänomen der Heimat habe eine zeitliche, räumliche und soziale Dimension, hält Mezger in seiner theoretischen Hinführung fest. Zunächst sei Heimat etwas Vergangenes, das nicht wieder zurückkehren könne. Die sudetendeutschen Vertriebenen erfuhren aber auch eine räumliche Zwangstrennung von den Schauplätzen ihrer Kindheit. Entsprechend waren die Tagungsmottos in den ersten Jahren sehr explizit gehalten, wie etwa in Kempten 1950 mit "Gebt uns die Heimat wieder". Je länger die Zwangsemigration zurücklag, umso mehr entwickelten sich die Forderungen hin zu einem eher abstrakten "Recht auf Heimat". Der Sudetendeutsche Tag galt nun noch stärker als zuvor als soziales Ereignis, das den Vertriebenen und auch ihren Nachfahren ein alljährliches Wiedersehen ermöglichte. Daran knüpfen auch Mezgers Ausführungen zum "Fest" an, das er als eine streng ritualisierte Abwechslung zu den Routinen des "Alltags" definiert. An die theoretischen Überlegungen schließt Elisabeth Fendl mit einem stärker deskriptiven Überblick über die Sudetendeutschen Tage von 1950 (Kempten) bis 2016 (Nürnberg) an. Sie führt aus, wie die Treffen aus pragmatischen Gründen am langen Pfingstwochenende durchgeführt wurden, die Pfingsttage zugleich aber auch als "Tage des Lichts" sakralisiert wurden. Einen Schwerpunkt legt Fendl auch auf die Kritik am Sudetendeutschen Tag, dessen politische Reden als Hemmnis für die deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989 galten.
Der Sudetendeutsche Tag erfuhr vor allem durch die mediale Berichterstattung starke Beachtung. Lionel Picard gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die medialen Konjunkturen in der Bundesrepublik Deutschland. Der Sudetendeutsche Tag erhielt immer dann große Resonanz, wenn das Thema Flucht und Vertreibung und die deutsch-tschechischen Beziehungen allgemeine Beachtung fanden. Für Aufmerksamkeit war laut Picard auch gesorgt, wenn Redner Protest hervorriefen. Als Ganzes skandalisiert wurde der Sudetendeutsche Tag, wie Markéta Barth in ihrem Beitrag herausarbeitet, in der Presse der sozialistischen Tschechoslowakei. Doch auch in den Berichten der Parteizeitung Rudé právo zeigen sich Konjunkturen. So hielt sich die Zeitung während des Prager Frühlings von 1968 mit ideologischen Wertungen eher zurück und berichtete auch über das Rahmenprogramm des Sudetendeutschen Tages. Barth skizziert ebenso die tschechische Berichterstattung nach der Samtenen Revolution, wonach manche Medien wie die kommunistische Tageszeitung Haló noviny die alten Feindbilder übernahmen. Liberale tschechische Publikationen wie Respekt, Lidové noviny oder Mladá fronta Dnes berichteten jedoch weitaus differenzierter.
Eine Stärke des Bandes liegt darin, dass sich mehrere Beiträge mit den Teilnehmern des Sudetendeutschen Tags beschäftigen. In der Analyse überzeugt besonders jener von Harald Lönnecker, der detailliert beschreibt, wie die späteren Vertriebenenfunktionäre bereits in ihrer Studentenzeit vor dem Zweiten Weltkrieg als eine eigene gesellschaftliche Schicht sozialisiert worden waren. Student zu sein, so Lönnecker, habe die Möglichkeit bedeutet, zu den zukünftigen Entscheidungsträgern zu gehören. Gerade an den deutschen Universitäten in der heutigen Tschechischen Republik sei die in Verbindungen organisierte Studentenschaft kein Randphänomen gewesen, sondern ein historisch relevanter Akteur. Auf die individuelle Perspektive gehen Sarah Scholl-Schneider und Johanne Lefeldt ein, die auf Grundlage zahlreicher biografischer Interviews konstatieren, dass der Sudetendeutsche Tag zentral für die Konstruktion eines sudetendeutschen Gemeinschaftsgefühls war. Umso stärker äußerten die Befragten Bitterkeit darüber, dass sich Jahr für Jahr weniger Menschen bei der Veranstaltung einfinden. Einen besonderen autobiografischen Blick zurück wagt Ulrike Zischka, indem sie ihre Teilnahme am Sudetendeutschen Tag als Kind beschreibt. Leider diskutiert der Beitrag die Subjektivität nicht in einem für eine wissenschaftliche Publikation angezeigten Maße.
Ohnehin ist der Sammelband gekennzeichnet von einer breiten Streuung zwischen analytisch starken Beiträgen und jenen, die sehr stark deskriptiver Natur sind. Das ist im Genre des Konferenzbands keine Seltenheit, doch hinsichtlich der verschiedenen Perspektiven auf den Sudetendeutschen Tag wäre eine stärkere Einrahmung durch eine Einleitung oder ein Fazit möglich gewesen. Denn zweifellos ist der Band eine gewinnbringende Lektüre für all jene, die sich mit der Geschichte sudetendeutscher Organisationen und der Vertriebenenverbände im Allgemeinen beschäftigen. Publikationen, die diese kollektiven Akteure in der Langzeitperspektive von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart in den Blick nehmen, gibt es bisher nur sehr wenige. Ein Desiderat für zukünftige Forschungen besteht in der Rezeptionsgeschichte deutscher Vertriebenenorganisationen aus ostmitteleuropäischer und überhaupt internationaler Perspektive. Bezüglich dieser Aufgabe, die Sprach- und Regionalkompetenz erfordert, erfüllt der vorliegende Band vor allem hinsichtlich der tschechischen Perspektive seinen Zweck.
Niklas Zimmermann