Rezension über:

Wilhelm Schmidt-Biggemann / Friedrich Vollhardt (Hgg.): Ideengeschichte um 1600. Konstellationen zwischen Schulmetaphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation (= problemata; 158), Stuttgart / Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog 2017, 338 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-7728-2713-6, EUR 68,00
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Rezension von:
Herbert Jaumann
Neunburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Herbert Jaumann: Rezension von: Wilhelm Schmidt-Biggemann / Friedrich Vollhardt (Hgg.): Ideengeschichte um 1600. Konstellationen zwischen Schulmetaphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation, Stuttgart / Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 12 [15.12.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/12/32150.html


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Wilhelm Schmidt-Biggemann / Friedrich Vollhardt (Hgg.): Ideengeschichte um 1600

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Der Band vereinigt die 11 Beiträge zu einem Symposion vom November 2014, das, von der Bibliotheca Philosophica Hermetica (Amsterdam) finanziert, in der Münchner Siemens-Stiftung stattfand. Ein besserer Publikationsort als die Reihe problemata, die vom Verleger Eckhart Holzboog selbst herausgegeben wird und sich als ein "Marktplatz" für Probleme der aktuellen Forschung versteht, ausdrücklich über Fachgrenzen hinweg und zumal für die Frühe Neuzeit, dürfte heute schwer zu finden sein.

Thema ist die geistige Konstellation im römisch-deutschen Reich der Jahrzehnte um 1600, zwischen der Konsolidierung des nachreformatorischen Konfessionalismus in neuen Dogmatiken und Orthodoxien, darunter der Tridentinischen Reform der alten Kirche, und der Epoche des Dreißigjährigen Krieges. Dass jene Konsolidierung labil und trügerisch war, ist die nicht ganz neue Ausgangsthese der Herausgeber in ihrer knappen Vorbemerkung, die den Band anstelle eines Problemaufrisses einleitet: "[U]nterhalb der institutionell gefestigten Mächte wirkt das apokalyptisch-dynamische Potential weiter, das sich den dogmatischen Stabilisatoren nicht fügen wollte." (8) Man will allenthalben "den Gedanken der Wirkung Gottes in Natur und Geschichte nicht aufgeben", und "nur vor dem Hintergrund dieser geschichtstheologischen Erwartungen, die sich auch auf Erlösung und Vollendung der Natur beziehen" (ebd.), seien die Bewegungen zu begreifen. Von den mit ihnen verknüpften Namen handeln die meisten Beiträge: vom Paracelsismus, dem Sammelbecken so vieler heterodoxer Bewegungen; von der Naturtheologie und Apokalyptik Valentin Weigels und Jakob Böhmes (über letzteren Günther Bonheim); von Giordano Brunos Pantheismus und Tommaso Campanellas (nicht nur utopischer) Politik und Wissenschaftskritik (darüber, vor allem aufgrund der zu wenig bekannten italienischen Forschung, Cecilia Muratori); vom christlichen Kabbalismus [1] bei Heinrich Khunrath, Robert Fludd und Athanasius Kircher; schließlich von Johann Arndt, Johann Valentin Andreae und vielen anderen, darunter der Bruderschaft der Rosenkreuzer und der Theologie der Sozinianer (Sascha Salatowsky zu Fausto Sozzini und Conrad Vorstius). Nur dass die Virulenz dieser untergründigen Potentiale im Reichsgebiet zunächst größer gewesen sein soll als in den "west- und nordeuropäischen Staaten" (ebd.) - das wird man zumindest im Blick auf die britische Insel und die dortige radikale Reformation nicht behaupten können. Weniger Claudia Olks Beitrag über "Shakespeare und die Religion - Hamlets Eschatologie", doch bereits ein für die ganze Konstellation nicht unbedeutender Name wie Robert Fludd, dem Wilhelm Schmidt-Biggemann einen sachkundigen Beitrag widmet ("Robert Fludds Streit mit Kepler"), spricht dagegen. Neben einzelnen Beiträgen, die sich auch der institutionellen Theologie widmen, wie Norbert Brieskorn SJ über Kardinal Bellarmin SJ oder Gideon Stiening über den "Doctor eximius" der Schule von Salamanca, Francisco Suárez und sein De legibus ac Deo legislatore ("Politische Theologie als Lösung und Problem"), bietet der Band anregende Einblicke in jenes "Chaos iudiciorum", das Andreae immer wieder beklagt, wenn er die von mehr oder weniger häretischen, dabei höchst phantasievollen Bestrebungen durchsetzte, aber stets desorientierte geistige Lage seiner Zeit bedauert: Friedrich Vollhardt untersucht die mystische Theologie von Valentin Weigel, bis hin zur späten Wirkungsgeschichte von dessen Theologia Deutsch beim jungen Schopenhauer, Anselm Steiger Johann Arndts Ikonographia "als Beitrag zur frühneuzeitlichen-lutherischen Bildtheologie" [2], und Wilhelm Kühlmann gibt einen perspektivenreichen Überblick über "Deutschland als Augiasstall. Synkretistisches Reformbegehren und Theologie der Natur vor dem Dreißigjährigen Krieg", in dem neben dem Paracelsismus [3] und vielem anderen auch von Arndt, von Andreae und den Rosenkreuzern und vielen der ihnen nahestehenden Autoren die Rede ist.

Gerade darauf aber wirft Volkhard Wels einen zweiten Blick in seinem bemerkenswerten Beitrag über "Die Frömmigkeit der Rosenkreuzer-Manifeste" und formuliert gleich zu Beginn eine bisher unerhörte These, wonach die beiden Rosenkreuzermanifeste (Kassel 1614 und 1615) eigentlich "keine heterodoxe oder in sonstiger Form vom konfessionellen Luthertum abweichende Frömmigkeit vertreten". Im Gegenteil seien sie "eine eher konservative Variante dieser Frömmigkeit" gewesen. "Die Fama fraternitatis und die Confessio fraternitatis wären damit Ausdruck eines genuin lutherischen Glaubens, einer praxis pietatis" im Sinne von Arndt (173). Ihre Einschätzung als extreme Heterodoxie gehe auf Umdeutungen bereits der Manuskiptfassungen durch den tirolerischen Fanatiker Adam Haslmayr und den Paracelsisten und Alchemisten Benedikt Figulus zurück, der auch für ihre Weiterleitung an den Hof Landgrafs Moritz von Hessen-Kassel, eines notorischen Paracelsistenmäzens, und dessen Druckerei gesorgt hat. Die Tragweite dieser gewissermaßen in einer ersten Runde mutig durchargumentierten These ist beträchtlich, für die Zuweisung der Rosenkreuzer und vielleicht noch mehr für die Biographie und das Werk Andreaes. Dessen beständige Distanzierungen von den ja von ihm selbst in Tübingen verfassten Manifesten, kaum dass sie publiziert waren, ist bis heute ein seltsames, unaufgelöstes Rätsel an diesem Autor, das immer wieder auch zu anachronistischen Deutungsversuchen psychologisierender Art geführt hat. [4] Zu hoffen ist jetzt, dass dieser Vorstoß zu einer ernsthaften und gründlichen Revision der bis heute geltenden Annahmen führt. Wels' Beitrag mit seinen pointierten Folgerungen, die in eigenständiger Argumentation und nicht in jenem in historischen Texten nur allzu bekannten Wiederkäuer-Modus gewonnen sind, darf als entscheidend für den forschungsinnovativen Wert des ganzen Bandes betrachtet werden. Wenn man ihn gelesen hat, legt man ihn mit dem Eindruck aus der Hand: Ja, so muss es sein, so muss man an die Dokumente herangehen, um in diesen Fragen weiterzukommen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. das Grundlagenwerk von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala, 4 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012-2015 (Bd. 1: 15. u. 16. Jh., Bd. 2: 1600-1660).

[2] Zur Bedeutung von Arndts Ikonographia für die der Bildtheologie zugrundeliegenden Lehre von den 'Adiaphora' vgl. die Untersuchung von Reimund R. Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005, von der Steiger leider nur den Titel nennt (in Fn 67).

[3] Vgl. die große Quellensammlung: Der Frühparacelsismus, hg. und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle, III Teile. Tübingen/Berlin 2001-2013 (Corpus Paracelsisticum [= CP], I, II, III.1,2).

[4] Vgl. die Rez. des Verf. von Martin Brecht: Johann Valentin Andreae, 1586-1654. Eine Biographie. Mit einem Essay von Christoph Brecht. Göttingen 2008, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 264 (2012), H. 3-4, 143-148.

Herbert Jaumann