Landesmuseum Württemberg (Hg.): Die Kunstkammer der Herzöge von Württemberg. Bestand, Geschichte, Kontext, Ostfildern: Thorbecke 2017, 3 Bde., 1064 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-7995-1259-6, EUR 98,00
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Wer sich mit Sammlungsgeschichte allgemein und mit der Geschichte der Stuttgarter Museen insbesondere auseinandersetzt, kennt die grundlegende Studie von Werner Fleischhauer zur Kunstkammer der Herzöge von Württemberg, die seit 1976 Referenzcharakter hat. [1] Nun liegt ein neues Standardwerk zur Stuttgarter Kunstkammer vor: Die dreibändige Publikation des Landesmuseums Württemberg widmet sich einerseits der Entstehung und Entwicklung der Stuttgarter Kunstkammer vom späten 16. bis ins 19. Jahrhundert und anderseits der Zusammensetzung ihrer Bestände. Dabei stellen die verschiedenen Autoren in ihren Aufsätzen und Katalogbeiträgen die Ergebnisse eines Forschungsprojektes vor, das von 2012 bis 2015 mit Fördermitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Erschließung der Bestände aus der Stuttgarter Kunstkammer und zur Rekonstruktion der Sammlung durchgeführt wurde.
Wie bei den meisten fürstlichen Kunst- und Wunderkammern der Frühen Neuzeit haben sich die Bestände der Stuttgarter Kunstkammer nur teilweise erhalten und sind heute auf verschiedene Institutionen verteilt: das Landesmuseum Württemberg, das Linden-Museum, das Staatliche Museum für Naturkunde Stuttgart, die Württembergische Landesbibliothek, das Hauptstaatarchiv Stuttgart und auch das Kunsthistorische Museum in Wien. Was die Stuttgarter Kunstkammer auszeichnet, ist die dichte Überlieferung in Form von Reiseberichten und Inventaren, die Auskunft über die Zusammensetzung und Präsentation der Sammlung geben. Während für das späte 16. und frühe 17. Jahrhundert wenig überliefert ist, verdichtet sich die Quellenlage in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert: Neben den Verzeichnissen von Sammlungen, die in die Württembergische Kunstkammer integriert wurden - etwa der Sammlung von Johann Jakob Guth von Sulz (1543-1616) - ist vor allem das umfassende Inventar zu erwähnen, das der Antiquar Johann Schuckard (1640-1725) von 1705 bis 1708 aufstellte und in dem er die einzelnen Exponate durchnummerierte, nach Aufbewahrungsort ordnete und beschrieb. Ein anderes Merkmal der Stuttgarter Kunstkammer ist ihre Entwicklung voller Brüche, die von politischen Umwälzungen und kriegerischen Ereignissen geprägt wurde. Ihre Anfänge reichen in die Regierungszeit von Herzog Friedrich I. (reg. 1593-1608) zurück; doch erst sein Nachfolger Johann Friedrich (reg. 1608-1628) sorgte durch gezielte Aufträge und Akquisitionen für die Vermehrung und Aufwertung der Bestände: In seiner Regierungszeit entstanden beispielsweise die kostbaren Steingefäße von Johann Georg Kobenhaupt (†1623) und die gedrechselten Elfenbeinpokale von Georg Burrer (tätig 1598/99-1627). Letztere gelangten im Zuge des Dreißigjährigen Krieges nach Wien: Mit der Einnahme von Stuttgart im Jahr 1634 wurden die herzogliche Kunstkammer und Bibliothek Opfer von Plünderungen. Dass Kunstkammerobjekte aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts heute noch in Stuttgart zu sehen sind, ist Herzogin Barbara Sophia (1584-1636) zu verdanken, die vor dem Einmarsch der kaiserlichen Truppen die Flucht nach Straßburg ergriff und die vier Truhen voller Kunstkammer-Objekte mitnahm, darunter Steingeschirr, Kunstwerke aus Elfenbein, Koralle und Rhinozeroshorn sowie "Einhorn" (Narwal-Stoßzahn) und Bezoare. Diese wertvollen Objekte kehrten am Ende des Dreißigjährigen Krieges nach Stuttgart zurück und bildeten fortan den Kern der herzoglichen Kunstkammer, die Herzog Eberhard III. durch eine intensive Ankaufspolitik ausbauen sollte. Eberhard III. erwarb nicht nur bedeutende Sammlungen wie 1653 die des Kammermeisters Johann Jakob Guth von Sulz-Durchhausen (1543-1616), er veranlasste auch die Neuordnung und zeitgemäße Präsentation der dynastischen Sammlungen. War die Kunstkammer bislang im Dachgeschoß des Alten Schlosses in drei Räumen zum Lustgarten ausgestellt gewesen, befahl er 1669 ihre Neueinrichtung im Alten Lusthaus. Die Bestände sollten "in bessere[r] construction und ordnung alß bishero" gebracht werden, und zwar mit dem ausdrücklichen Ziel, "zu Unser und Unsers Fürstlichen Haußes Splendor" beizutragen (109). In dieser Anordnung kommt die Verknüpfung zwischen Sammlungstätigkeit und fürstlicher Repräsentation deutlich zum Ausdruck. Dementsprechend erklärte Eberhard III. testamentarisch nicht nur die Stammkleinodien zum unveräußerlichen Gut des Hauses Württemberg, sondern auch die Kunstkammer, deren Bedeutung für die Dynastie Herzog Wilhelm Ludwig (reg. 1674-1677) durch die Erschaffung eines Fideis commis bekräftigte. Doch standen der herzoglichen Kunstkammer noch bewegte Zeiten bevor. Nach mehrmaligem Auslagern angesichts eines drohenden Erbfolgekrieges wurden 1690 Teile der Bestände vor dem Einmarsch der französischen Truppen nach Regensburg in Sicherheit gebracht. Diese politischen Umbrüche hatten zur Folge, dass der Antiquar Johann Schuckard die Sammlung nach ihrer Rückkehr neu ordnete und ein ausführliches Gesamtinventar in 20 Bänden vorlegte, von denen 14 Bände heute noch existieren. Entsprechend der musealen Entwicklung in Europa verlor jedoch die Stuttgarter Kunstkammer im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich an Bedeutung. Nachdem das Alte Lusthaus um die Mitte des Jahrhunderts zu Gunsten des Neubaus des Residenzschlosses abgerissen wurde, kam die Kunstkammer ins Gesandtenhaus, um einige Jahre später in das Herrenhaus am Marktplatz umzuziehen. Sie büßte dabei wichtige Teilbestände ein: Gemälde, Kupferstiche, Zeichnungen und Bronzen wurden ausgesondert und in Schloss Ludwigsburg neu inszeniert, wo auch ein mathematisches Kabinett eingerichtet wurde. Die Restbestände kamen später in die Hohe Carlschule und schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück in das Alte Schloss, wo sie mehr als Depot denn als Schausammlungen fungierten.
Mit der Publikation seines dreibändigen Werkes zur Stuttgarter Kunstkammer hat das Landesmuseum Württemberg nicht nur die Geschichte seiner Sammlungen über eine Zeitspanne von mehr als zwei Jahrhunderten rekonstruiert und in den Kontext des frühneuzeitlichen Sammelwesens eingebettet, sondern auch einen Katalog vorgelegt, in dem zahlreiche Kunstkammer-Objekte großzügig illustriert, ausführlich besprochen und in vielen Fällen zum ersten Mal publiziert sind. Dabei steht bei jedem Objekt sein Bezug zur Stuttgarter Kunstkammer im Vordergrund, der durch die entsprechenden Inventareinträgen untermauert wird. Dass dieser verdienstvolle Katalog vereinzelte Fehler in sich birgt, ist angesichts der Fülle an untersuchten Quellen und Objekten völlig normal. So handelt es sich bei dem "Homunculus unter Glashaube" des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart (Kat. Nr. 38) weder um ein frühneuzeitliches Werk, noch um ein Exponat aus der Kunstkammer, obwohl es zugegebenermaßen der frühneuzeitlichen Vorliebe für "Monster" zu entsprechen scheint. Vielmehr ist dieser "Wolpertinger", der sich aus verschiedenen Tierteilen, Modelliermasse und anderen Materialien zusammensetzt, der japanischen Folklore entsprungen. Es handelt sich um einen der zahlreichen "Ningyo", die in Japan verstärkt seit 1850 für den Export produziert wurden und sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in europäischen Sammlungen nachweisen lassen. [2] Die Besprechung des Stuttgarter Ningyo und seine aktuelle Präsentation im Herzen der Kunstkammer-Rekonstruktion im Landesmuseum Württemberg ist daher fragwürdig. Doch soll mit dieser kritischen Randanmerkung keineswegs der Verdienst der beteiligten Wissenschaftler geschmälert werden, die es geschafft haben, ihre Forschungsergebnisse in einer ansprechenden Publikation zu präsentieren und diese auch in die museale Neuinszenierung der Kunstkammer-Bestände im Landesmuseum Württemberg einfließen zu lassen. Lobenswert ist ebenfalls, dass das Landesmuseum Württemberg der Forschungsgemeinschaft neben diesem dreibändigen Werk weitere Instrumente zur Verfügung stellt: Nach dem Prinzip des Open Access sind auf der Museums-Website nicht nur die Transkription der erhaltenen Inventare von Johann Schuckard veröffentlicht [3], sondern auch eine Datenbank, in der alle identifizierten Exponate der Stuttgarter Kunstkammer im Landesmuseum Württemberg erfasst sind. [4] Damit hat das Landesmuseum Württemberg nicht nur eine schöne, gut recherchierte und runde Publikation vorgelegt, sondern allgemein einen wichtigen Beitrag zur Erforschung frühneuzeitlicher Kunst- und Wunderkammer geleistet.
Anmerkungen:
[1] Werner Fleischhauer: Die Geschichte der Kunstkammer der Herzöge von Württemberg in Stuttgart, Stuttgart 1976.
[2] Klaus Barthelmess: Rätselhaftes Kabinettstück: Ein Japanischer Meermensch im Kölnischen Stadtmuseum, in: Kölner Museums-Bulletin (2005), Nr. 2, 18-25; Jan Bondeson: The Feejee Mermaid and Other Essays In Natural and Unnatural History, Ithaca 1999.
[3] https://www.landesmuseum-stuttgart.de/en/sammlungen/forschung/kunstkammer/transkription-kunstkammerinventare/ (Zugriff am 18.12.2018).
[4] https://bawue.museum-digital.de/index.php?t=sammlung&instnr=1&gesusa=102 (Zugriff am 18.12.2018).
Virginie Spenlé