Theo Jülich / Lothar Lambacher / Kristine Siebert (Hgg.): Der Mainzer Goldschmuck. Ein Kunstkrimi aus der deutschen Kaiserzeit, Regensburg: Schnell & Steiner 2017, 336 S., 175 Farbabb., ISBN 978-3-7954-3286-7, EUR 39,95
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Die vorliegende Publikation widmet sich einem der spannendsten Kapitel der Sammlungsgeschichte mittelalterlicher Kunst: dem Mainzer Goldschmuck, der lange Zeit als sogenannter Giselaschmuck in der Forschung firmierte. Es handelt sich um die detaillierte Dekonstruktion eines Mythos, der sich trotz mancher Zweifel bis in jüngste Zeit in der Literatur halten konnte. Der Band begleitete eine Sonderausstellung im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, in der die Bestandteile des Schatzes zusammengetragen und einander gegenübergestellt wurden. Dies ist ungewöhnlich und durchaus mutig, kommen doch Präsentationen rein forschungsgeschichtlicher Themen heutzutage kaum über begrenzte Kabinettausstellungen hinaus.
Grundlage für Ausstellung und Publikation ist die langjährige Forschungszusammenarbeit mehrerer Institutionen und Fachkolleginnen und -kollegen. An erster Stelle ist hier Theo Jülich zu nennen, der kurz nach Eröffnung der Ausstellung nach langer Krankheit verstarb. Als Kurator der Darmstädter Mittelaltersammlung und später als Direktor des Museums verfolgte er das Projekt über viele Jahre hinweg. Ihm zur Seite stand Lothar Lambacher vom Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin, zu dessen Bestand der Hauptteil des Schatzes gehört. Als weitere Kooperationspartner sind neben der Generaldirektion kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz das Landesmuseum Mainz zu nennen.
Das Resultat geht in der Tiefe der Bearbeitung weit über einen gewöhnlichen Ausstellungskatalog hinaus. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass mit Birgitta Falk, Antje Krug, Hiltrud Westermann-Angerhausen und Jochem Wolters weitere Spezialisten gewonnen werden konnten, die vorab im Rahmen mehrerer Vortreffen die Objekte eingehend studierten. Dies kam vor allem den Katalognummern zugute, die sämtliche Objekte eingehend vorstellen. Neben den einleitenden Aufsätzen wird die Publikation abgeschlossen durch einen ausführlichen Beitrag von Jochem Wolters. Für diesen hätte man sich eine stärkere Verflechtung mit den anderen Aufsätzen gewünscht, die jedoch - wie die Herausgeber einräumen - mit einem erheblichen editorischen Aufwand verbunden gewesen wäre. Zudem vermisst man eine Einführung von Wolters zu seinem Beitrag, in der die Detailbeobachtungen hätten zusammengeführt werden können. So besteht die Gefahr, dass die vielen Beobachtungen nur von einigen wenigen Spezialisten wahrgenommen werden.
Kristine Siebert kam schließlich die Aufgabe zu, aus dem Spagat zwischen dem Termindruck der Ausstellung und der Krankheit des Mitherausgebers eine Publikation zu formen. Gewisse Redundanzen waren dabei kaum vermeidbar. Gleichwohl darf man konstatieren, dass als Gesamtergebnis eine großteils vorbildhafte Studie entstanden ist, deren Ergebnisse ohne weiteres als spektakulär zu bezeichnen sind.
An dieser Stelle kann nur auf einige der aus der Sicht des Rezensenten wichtigsten Ergebnisse hingewiesen werden. Klarheit besteht nun darüber, dass das, was man bislang unter dem sogenannten Giselaschmuck verstand, tatsächlich aus ganz verschiedenen Fundzusammenhängen stammt und zu unterschiedlichen Zeiten geborgen wurde. Zunächst kam 1880 bei Bauarbeiten in Mainz eine goldene Fibel zutage, dann sechs Jahre später mit unklarer Herkunft weitere Schmuckstücke bei einer Wiesbadener Trödlerin. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde versucht, einen Zusammenhang zwischen den Objekten herzustellen. In den Folgejahren tauchten unter anderem bei Ausgrabungen in der Mainzer Altstadt noch weitere Objekte auf. Schnell wurde das Ganze der Öffentlichkeit als der Schmuck einer Fürstin des 11. Jahrhunderts präsentiert.
Hier kamen nun konkrete politische Interessen im wilhelminischen Deutschland hinzu: Den Objekten wuchs zunehmend eine kaiserliche Aura zu, die schließlich darin gipfelte, dass Otto von Falke darin 1913 den Schmuck Giselas von Schwaben (989/999-1043), der Gattin Kaiser Konrads II., sah, ein Jahr nachdem die Berliner Museen den Komplex für das geplante Deutsche Museum erworben hatten. Dies zementierte auch die kunsthistorischen Einordnungen. Mit dem Ende des Kaiserreiches 1918 fiel die kaiserliche Konnotation weg und das Interesse an dem Schatz ging zurück. Eine kritische Auseinandersetzung unterblieb jedoch, wohl auch deshalb, weil in der Folgezeit auf kunsthistorischer Seite vor allem mit Otto von Falke teils dieselben Akteure im Spiel waren.
Die weitere Aufarbeitung hätte wahrscheinlich viel früher eingesetzt, wäre nicht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine besondere Situation entstanden. Einige Stücke des Schatzes wurden während mehrerer Brände in den Bergungsräumen der Museen kurz nach Kriegsende schwer beschädigt, doch konnte er größtenteils aus dem Schutt geborgen werden. Anschließend gelangte der Komplex zunächst als Kriegstrophäe in die Sowjetunion, wurde dann 1958 zurückgegeben und im Kunstgewerbemuseum in Berlin-Köpenick ausgestellt. Während Hermann Fillitz und Hansmartin Decker-Hauff Zweifel anmeldeten und eine stärkere Differenzierung forderten, blieb man in Ost-Berlin bei der Bezeichnung Giselaschmuck. Lothar Lambacher verweist in seinem Beitrag auf dessen Restaurierung durch Gerhard Gruschke-Eichendorff im Jahr 1967. Die darauf basierende Veröffentlichung von 1970 war die erste eigenständige Publikation zur Restaurierung von musealen Goldschmiedearbeiten. Hier zeigt sich, dass die innovative Rolle der Restaurierung in der damaligen DDR, die auch unter einer gesamtdeutschen Perspektive bedeutsam ist, in vielen Punkten bislang noch keine ausreichende Würdigung fand.
Das entscheidende Kapitel konnte erst kurz vor dem Ende der deutschen Teilung eingeläutet werden. Im Zuge der Vorarbeiten für die große Salier-Ausstellung in Speyer setzte sich seit 1987 Mechthild Schulze-Dörrlamm mit dem Schatz auseinander. Deren 1991 publizierte Resultate wurden jedoch von Anfang an kontrovers aufgenommen.
Es ist das Verdienst des Bearbeiterteams, die Fundumstände und die folgende Konstruktion des sogenannten Giselaschatzes beispielhaft aufgearbeitet zu haben. Insbesondere die Beiträge von Theo Jülich, Antje Krug und Lothar Lambacher lesen sich teilweise in der Tat wie ein Krimi, begleitet von ungläubigem Staunen, welche Kräfte zusammenkamen und mit welcher Unverfrorenheit Fundzusammenhänge übergangen, Objekte neu geschaffen und wissenschaftliche Genauigkeit beiseitegelassen wurden. Mehrere Forschergenerationen wurden dadurch regelrecht geblendet. Über hundert Jahre dauerte es, bis diese Umstände nun eindrucksvoll aufgeklärt werden konnten.
Zugleich zeigt sich, wie wichtig genaue Objektbeobachtungen sind. Hiltrud Westermann-Angerhausen und Birgitta Falk gelang es, mehrere Komplexe herauszukristallisieren, wie zum Beispiel die Fibeln (Kat.-Nrn. 2-6), die vorsichtig nach Westdeutschland in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts datiert werden. Manches bleibt noch immer unklar, wie die große Adlerfibel, deren Datierung noch zwischen der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts und der Zeit um 1000 schwankt (Kat.-Nr. 1). Andere Objekte scheinen im ausgehenden 19. Jahrhundert entweder komplett neu hergestellt (Kat.-Nr. 16: Kleine Adlerfibel) oder aus älteren Teilen zusammengestellt worden zu sein, wie etwa der Brustbehang (Kat.-Nr. 17) oder der Halsschmuck (Kat.-Nr. 18).
Entstanden ist so eine äußerst lehrreiche Publikation, die beispielhaft ein durch politische Rahmenumstände beflügeltes Konstrukt entlarvt. Betrug, Opportunismus und Nationalismus überlagerten sich hier und führten die Forschung über Jahrzehnte hinweg in die Irre. Der Band ist auch ein eindrückliches Beispiel, wie die institutions- und disziplinübergreifende Zusammenarbeit von Fachkollegen zu einem Glücksfall für die Forschung werden kann.
Gerhard Lutz