Titus J. Meier: Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall. Die Schweiz im Kalten Krieg, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2018, 592 S., 16 s/w-Abb., 15 Tbl., ISBN 978-3-03810-332-5, EUR 54,00
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Während des Kalten Kriegs wurden in allen NATO-Mitgliedsländern, aber auch in den neutralen Staaten Finnland, Schweden, Schweiz und Österreich, geheime Widerstandsnetze (Stay behind) für den Fall einer Invasion des Warschauer Pakts installiert. Seitdem diese Einheiten 1990/91 öffentlich bekannt und rasch aufgelöst wurden, sind sie zu einem Synonym für Staatsterror geworden. In Italien, Belgien oder der Türkei sollen diese NATO-"Geheimarmeen" aktiviert worden sein, um kommunistische Machtübernahmen zu verhindern. Solche Annahmen stützten sich lange Zeit auf eine ausgesprochen schmale Quellenbasis. Mittlerweile wurden jedoch einige US-amerikanische und auch bundesdeutsche Dokumente freigegeben. [1] Diese ermöglichen einen nüchternen Befund: Stay behind diente in erster Linie der militärischen Vorbereitung auf den Ernstfall, Beweise für eine Involvierung in den Terrorismus gibt es bislang nicht. [2]
In diesem Zusammenhang ist die hier zu besprechende Publikation von Titus J. Meier ausdrücklich zu begrüßen. Denn diese liefert die erste auf Primärquellenrecherche basierte Untersuchung des Fallbeispiels Schweiz. Zum dortigen Stay behind-Ableger, der als "Spezialdienst" und später Projekt 26 (P-26) bekannt wurde, gab es bislang nur einen Memoirenband und zwei journalistische Publikationen. [3] Erst 2009 wurde die Geheimhaltung durch den Bundesrat offiziell aufgehoben, und es war möglich mit Zeitzeugen zu sprechen. 2016 wurden Meier auch alle Akten zum P-26 zugänglich gemacht, "mit Ausnahme des Dossiers mit überwiegend schutzwürdigen Personendaten" (460f.). Der Autor untersucht erstens die Entwicklung der schweizerischen Widerstandsvorbereitungen gegen eine feindliche Besatzung zwischen 1940 und 1990, vergleicht zweitens Struktur, Akteure, Ausrüstung und Einsatzvorstellungen der verschiedenen Organisationen, streicht drittens die Besonderheiten einer geheimen Organisation in einem demokratischen Rechtsstaat heraus und stellt viertens die "Skandalisierung" des P-26 als "Geheimarmee" zur Diskussion (32).
Meier zeichnet nach, dass erste organisatorische Vorkehrungen für Widerstand im Besetzungsfall in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückreichen. Nach 1945 fing der Nachrichtendienst an, Funkverbindungen für den Ernstfall aufzubauen. 1967 wurden diese Aufgaben als "Spezialdienst" in der Unterabteilung Nachrichtendienst und Abwehr angesiedelt (167). Es handelte sich um einen professionellen Kern, der Funker ausbildete, während ein Milizstab Vertrauensleute in der ganzen Schweiz schulte. Wichtige Impulse für die weitere Entwicklung kamen vom britischen Auslandsgeheimdienst MI6. Unter anderem wurden Schweizer Instrukteure darin geschult, sich auf unbekanntem Gebiet konspirativ zu verhalten. Umgekehrt kamen britische Kader Mitte und Ende der 1970er-Jahre für Schleusungsübungen in die Schweiz. In den 1980er-Jahren wurde diese Ausbildungsunterstützung weiter intensiviert. Mehrmals waren Schweizer Teilnehmer zu Übungszwecken in Großbritannien - so fand bei einer Übung die Anbindung von Sprengstoffattrappen auf dem Gelände einer Ölraffinerie statt. Mitglieder des Führungsstabs wurden von britischen Spezialisten 1983 und 1986 auch in der Schweiz trainiert.
Schon 1970 war der "Spezialdienst" zu einer eigenständigen Sektion aufgewertet und besser dotiert worden. Allerdings verstrickte sich der schillernde Leiter Albert Bachmann in Kontroversen: Eigenständig und ohne Zustimmung seiner Vorgesetzten erwarb er 1976 das südirische Landgut Liss Ard House als Ersatzbundeshaus für eine Exilregierung. Gesichert ist laut Meier, dass der Bund einzig über eine Miete in Höhe von 50.000 Franken 1978/79 direkt in das Vorhaben involviert war. Ende November 1979 wurde dann der Schweizer Kurt Schilling in Österreich verhaftet und verurteilt, weil er ein Manöver ausspioniert hatte. Auch hier war Bachmann Auftraggeber gewesen, was seinen Abgang beschleunigte.
Unter seinem Nachfolger Efrem Cattelan wurde die von Bachmann begonnene Reorganisation als P-26 weiter vorangetrieben. Im Unterschied zum "Spezialdienst" wurden der Soll-Bestand von 2000 auf rund 800 reduziert und die Exilvorbereitungen im Ausland untersagt. Aber Sinn und Zweck blieben gleich: P-26 war in Friedenszeiten eine Ausbildungsorganisation: "Ihr oblag es, die rekrutierten Mitglieder für ihre jeweiligen Funktionen auszubilden und für den Ernstfall vorzubereiten", so Meier (271f.). Wäre die Schweiz tatsächlich militärisch besetzt worden, hätte P-26 die Rolle einer Nachrichten- und Propagandaorganisation übernommen. Ihre Aufgabe wäre es dann gewesen, den Informationsfluss aus den besetzten Landesteilen zu Regierungsstellen und umgekehrt sicherzustellen. Ferner hätte P-26 versucht, mit psychologischer Kriegsführung die Moral der Bevölkerung zu heben. Der Guerillakrieg dagegen wäre die Aufgabe von Armeeeinheiten gewesen. Gewalt war als letztes Mittel vorgesehen, weil die Gefahr von Repressalien als zu groß eingeschätzt wurde.
P-26 hätte erst bei einer Aktivierung durch den Bundesrat ihre Tätigkeit aufgenommen. Generalstabschef Jörg Zumstein umschrieb diesen Prozess einmal sinnbildlich mit der antiken Statue der Venus von Milo: "Kopf, Torso und Beine und Füße sind vorhanden, aber Arme und Hände fehlen. Der Torso symbolisiert die schon im Frieden nötige Infrastruktur, die Beine und Füße deuten auf die Beweglichkeit hin. Arme und Hände wären der Organisation erst zugewachsen, wenn Teile des Schweizer Volkes, eventuell auch das ganze Volk, in der Not und Bedrängnis fremder Besetzung sich aufgerafft hätten, sich gegen den Besetzer aufzulehnen." (382)
P-26 bestand hauptsächlich aus Zivilisten, vielfach mit militärischer Vergangenheit. Es waren nie mehr als 300 bis 500 Personen, die auf verschiedene Regionen verteilt waren und sich dann in Kleingruppen aufteilten. Die Fachausbildung fand in den Anlagen "Schweizerhof" und "Park" in Gstaad statt. Man machte die P-26-Kader mit den Methoden der psychologischen Kriegführung vertraut. Dazu gehörten die Anfertigung von Stempeln, das Sprayen mit Schablonen oder Siebdrucke mit Damenstrümpfen. Auf dem Curriculum standen außerdem nachrichtendienstliches Denken und Handeln, Sozialpsychologie und Pistolenschießen. Funker und Pioniere erhielten eigene Kurse, letztere übten auch eine "Sabotageaktion" an einem realen Objekt. Insgesamt wurden für P-26 zwischen 1976 und 1990 rund 53,4 Millionen Franken ausgegeben, wobei der größte Anteil auf Infrastrukturausgaben, Materialbeschaffungen und den Ankauf von Gold als Zahlungsmittel entfiel. 1990, als P-26 öffentlich bekannt wurde, waren die Vorbereitungen immer noch nicht abgeschlossen. Fast fertig war aber die Anlage von vier dezentralen Materialdepots und Containern, aus denen nach der Aktivierung das Material an die Organisation abgegeben worden wäre: Sanitätsmaterial, Waffen, Sprengstoff, Gold sowie Landkarten.
Meier schließt, dass P-26 "keinen militärischen Kampfauftrag" besaß. Die Verantwortlichen seien deswegen davon ausgegangen, dass die Verfassungsmäßigkeit gegeben sei. Für die Bezeichnung "Geheimarmee" gebe es somit "keine Evidenz" (474). Meier liefert viele neue Erkenntnisse. Allerdings vermisst man den Vergleich mit anderen westeuropäischen Stay behind-Beispielen. Darüber hinaus steht Meier allenfalls der politisch-medialen Skandalisierung von P-26 kritisch gegenüber. Dabei hatte selbst Efrem Cattelan 1990 gewarnt: "Die Versuchung, das in einer vorbereiteten Widerstandsorganisation vorhandene beachtliche Potential an Leuten, Material, Spezialwissen und Ausbildung undemokratisch und widerrechtlich einzusetzen, kann gegebenenfalls vorhanden sein." (402)
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Online-Datenbank zum Nazi War Crimes Disclosure Act (https://www.cia.gov/library/readingroom/collection/nazi-war-crimes-disclosure-act); Erich Schmidt-Eenboom / Ulrich Stoll: Die Partisanen der NATO. Stay-Behind-Organisationen in Deutschland 1946-1991, Berlin 2015; Agilolf Keßelring: Die Organisation Gehlen und die Neuformierung des Militärs in der Bundesrepublik, Berlin 2017.
[2] Unter anderem sind erschienen: Leo A. Müller: Gladio - das Erbe des kalten Krieges: Der Nato-Geheimbund und sein deutscher Vorläufer, Reinbek bei Hamburg 1991; Jens Mecklenburg (Hg.): Gladio. Die geheime Terrororganisation der NATO, Berlin 1997; Daniele Ganser: NATO's Secret Armies. Operation Gladio and Terrorism in Western Europe, London / New York 2005; Tobias von Heymann: Die Oktoberfest-Bombe. München, 26. September 1980 - die Tat eines Einzelnen oder ein Terror-Anschlag mit politischem Hintergrund?, Berlin 2008; Olav Riste: "Stay Behind": A Clandestine Cold War Phenomenon, in: Journal of Cold War Studies 16 (2014), Nr. 4, 35-59.
[3] Rudolf Moser: Schweizer Geheimarmee, Sumiswald 1993; Hans Senn: Auf Wache im Kalten Krieg. Rückblick auf mein Leben, Wettingen 2007; Martin Matter: P-26. Die Geheimarmee, die keine war, Baden 2012.
Thomas Riegler