Agnes Limmer: Umwelt im Roman. Ökologisches Bewusstsein und Literatur im Zeitalter der Industrialisierung (= Umwelt und Gesellschaft; Bd. 19), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 193 S., ISBN 978-3-525-35586-2, EUR 50,00
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In der Zeit der Hochindustrialisierung traten in Europa und in den Vereinigten Staaten massive Umweltschäden auf, hervorgerufen durch industrielle Verschmutzungen und Immissionen, aber auch durch die Folgen des raschen Wachstums der Städte, das zu massiven Problemen bei der Beseitigung von Abfällen und Abwässern führte. Die Auswirkungen waren nun auch für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar und sorgten für einen starken Handlungsdruck - so etwa "The Great Stink" von 1858, als aufgrund der Einleitung von Abwässern in die Themse der Gestank in den Sommermonaten in London als unerträglich empfunden wurde. [1]
Nicht nur in der öffentlichen Diskussion, auch in der Literatur spiegelten sich die Umweltprobleme wider. Anhand von drei Romanen zeigt Agnes Limmer, dass diese bereits als Umweltliteratur zu verstehen gewesen seien, bei der die Umweltverschmutzung mehr war als nur Hintergrund für die Erzählhandlung, sondern vielmehr "Ausdruck des sich entwickelnden Umweltbewusstseins" (9). Romane, so die These der Verfasserin, ermöglichten umweltpolitisches Handeln und ihre Autoren seien zu "Vermittlern ökologischer Werte" geworden. Die drei ausgewählten Romane behandeln dabei sehr unterschiedliche Themen: In "Our Mutual Friend" (1864/65) beschreibt Charles Dickens die Verschmutzung der Themse und die Rolle des Geldes, in "Pfisters Mühle" (1883/84) geht es Wilhelm Raabe um die Umweltfolgen der Industrialisierung in einer ländlichen Region, und Upton Sinclair setzt sich in "The Jungle" (1906) mit den katastrophalen hygienischen Bedingungen der Schlachthöfe und der Fleischindustrie in Chicago auseinander. Entscheidend für die Auswahl der Romane waren neben der Thematik auch die einschlägigen Recherchen ihrer Autoren.
Die Verfasserin rückt in ihrer Arbeit die Umweltrisiken und die Suche nach "gerechten Lösungen" (13) in den Fokus. Die Frage der "Umweltgerechtigkeit" wird als Verteilungsgerechtigkeit betrachtet, die in unterschiedlicher Weise in den drei genannten Romanen angesprochen wird und dadurch eine Brücke zwischen der sozialen und der ökologischen Dimension von gesellschaftlichen Ungleichheiten schlägt. Zugleich bietet aus Sicht der Verfasserin die Umweltgeschichte "ideale Voraussetzungen für transnationale Betrachtungen" und für Aussagen über die Entwicklung eines "gesellschaftlichen Bewusstseins für Umweltzusammenhänge" (20). Die literarischen Werke werden auf das kulturelle Gefüge und die gesellschaftliche Struktur rückbezogen, die sie hervorgebracht haben. Die "Verbindung von Umwelt- und Umweltliteraturgeschichte" ergänzt aus Sicht der Verfasserin das Konzept der Umweltgerechtigkeit in seiner historischen Dimension (30). Die Verfasserin verschränkt Methoden der empirisch-qualitativen Quellenanalyse und der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation und verortet ihr Erkenntnisinteresse vor allem im Bereich des literatur- und kulturwissenschaftlichen "Ecocriticism"-Ansatzes. Zur Beleuchtung des historischen Kontexts werden archivalische Quellen mit herangezogen, so einerseits Dokumente zu den Recherchen der Autoren im Zuge ihrer literarischen Arbeit, andererseits auch Archivalien zu den in den Werken angesprochenen Umweltproblemen.
Nach einer umfangreichen theoriegeleiteten Einführung beginnt die Verfasserin zunächst chronologisch mit Charles Dickens und greift die Abfallproblematik und die Flussverschmutzung infolge des raschen Wachstums der Metropole London auf. Es folgt mit "Pfisters Mühle" von Raabe der vermutlich erste deutsche Umweltroman. Er thematisiert die Auswirkungen der Industrialisierung am Beispiel der Gewässerverschmutzung. Unzutreffend ist die negative Beurteilung der Erfolgsaussichten von "Umweltprozessen" im 19. Jahrhundert bei Limmer - auch in Raabes Roman gewinnt der Müller seinen Prozess gegen die Fabrik, die für die Verschmutzung verantwortlich ist. Anhand der Auswertung zahlreicher Konflikte und Prozesse ist beispielsweise für Aachen und Duisburg für den Zeitraum zwischen 1815 und 1914 nachgewiesen worden, dass die Erfolgschancen gerichtlicher Klagen durchaus nicht ungünstig waren. Die Prozesse orientierten sich dabei nicht an abstrakten Konzepten, sondern forderten pragmatisch Schadensersatz, Verlagerung von Belästigungen und Erhaltung individueller Lebensqualität. [2] Den Abschluss bildet Upton Sinclairs "The Jungle" mit seiner Kritik der Auswirkungen der industriellen Massenproduktion am Beispiel der Fleischverarbeitung. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Verfasserin den Reform- und Protestbewegungen sowie Sinclairs Vorstellungen einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung.
Im abschließenden Epilog diskutiert die Verfasserin die untersuchten Romane als "alternative Möglichkeitsräume" (166), in denen die Akteure unterschiedliche Handlungsoptionen durchspielen können, zugleich auch als "eine Art frühen Umweltprotests" (165). Für Sinclairs "The Jungle" mag dies durchaus gelten, doch in "Our Mutual Friend" von Dickens steht die Umweltproblematik nicht im Zentrum des Romans. Auch hinsichtlich der Lösungsvorschläge wird man am ehesten bei Sinclair fündig, der allerdings eine neue gesellschaftliche Ordnung fordert. Ob in dieser sozialistischen Utopie der Erhaltung der Umwelt größere Aufmerksamkeit gewidmet worden wäre, bleibt dahingestellt. Unerwähnt bleiben die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sich abzeichnenden kommunalen und staatlichen Lösungsversuche der Umweltprobleme, die vor allem auf wissenschaftliche Expertise und technische Maßnahmen setzten. [3] Es ist die Frage zu stellen, ob sich die Verfasserin mit ihrem Ansatz der "Umweltgerechtigkeit" nicht vom Bewusstsein und der Vorstellungswelt der Zeitgenossen der Romane entfernt hat. "Umwelt" als Konzept entwickelte sich im heutigen Sinne erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die von Limmer untersuchte literarische Verarbeitung von Umweltproblemen verdient jedoch die Aufmerksamkeit der Forschung. So wäre der Frage nachzugehen, welche weiteren Beispiele es für Hinweise auf Umweltverschmutzung in der Unterhaltungsliteratur vor dem Ersten Weltkrieg gab. Interessant ist besonders auch die Verbreitung der ausgewählten Bücher. Da diese durchweg zuerst als Fortsetzungsromane in Zeitschriften erschienen sind, geht die Verfasserin von einer großen Leserschaft aus (19). Es ist bekannt, dass Frauen nicht selten als Klägerinnen bei "Umweltprozessen" auftraten. Hier wäre zu fragen, ob sie auch als Leserinnen der untersuchten Romane nachweisbar sind.
Anmerkungen:
[1] Stephen Halliday: Great Stink of London. Sir Joseph Bazalgette and the Cleansing of the Victorian Metropolis, Stroud 1999.
[2] Stephanie Geissler: Wem gehört die Stadt? Umweltkonflikte im städtischen Raum zur Zeit der Früh- und Hochindustrialisierung in Aachen und Duisburg, Münster 2016.
[3] Vgl. u.a. Frank Uekötter: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880-1970, Essen 2003; Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910, Reinbek bei Hamburg 1990; Reinhold Zilch: Gesundheitsvorsorge und Umweltpolitik - Staat, Kommunen und Verbände bei der Gründung der Königlichen Versuchs- und Prüfungsanstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung 1901. In: Preußen als Kulturstaat. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817-1934). Fallstudien. Acta Borussica - Neue Folge 3.1 hg. von Bärbel Holtz [u.a.], 2012, 245-300.
Michael Wettengel