Michael Rathmann: Tabula Peutingeriana. Die einzige Weltkarte aus der Antike, 3., überarbeitete Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018, 112 S., 33 Farb-, 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-8053-5177-5, EUR 99,95
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Das vorliegende Werk ist eine leicht überarbeitete Sonderausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft und richtet sich an eine breite Öffentlichkeit. Die gedruckte Ausgabe der Tabula Peutingeriana vermittelt einen guten Eindruck von der antiken Vorlage. Das Werk gliedert sich mit einer Einführung über die Tabula Peutingeriana und dem Abbildungsteil selbst in zwei Teile.
Im Einleitungsteil stellt Michael Rathmann die Provenienz der Handschrift dar (6-8): Vermutlich stammt die Tabula Peutingeriana aus dem Kloster Reichenau, wurde dort entwendet, dem Namensgeber Konrad Peutinger vermacht und kam über mehrere Zwischenstationen in den Besitz der Wiener Hofbibliothek.
Im Folgenden verortet der Autor die Tabula Peutingeriana in der antiken Geografiegeschichte (8-12). Er widerlegt die These, dass die Karte des Agrippa der Archetypus der Tabula Peutingeriana ist und dass die langgestreckte Form durch die Abbildung auf den Wänden der Porticus Vipsania bedingt ist. Rathmann vertritt seit Langem die These, dass die Tabula Peutingeriana in der Nachfolge eines Kartentyps steht, der auf die Zeit der Hellenismus zurückzuführen ist und nach Strabon als chorografisch bezeichnet wird (12-14). Er begründet dies mit der Vielzahl von geografischen Angaben aus der Zeit des Hellenismus, die nicht dem Kenntnisstand der römischen Kaiserzeit entsprechen. Daraus folgt seiner Meinung nach, dass die Tabula Peutingeriana nicht für die römische Staatspost eingesetzt wurde, da die hierfür erforderlichen Funktionsangaben fehlen. Die Tabula Peutingeriana sei ebenfalls nicht als itinerarium pictum zu bezeichnen, da wesentliche Merkmale dieses von Vegetius beschriebenen Typus fehlten.
Im nächsten Unterabschnitt (15-17) legt Michael Rathmann sein Konzept der chorografischen Geografie dar, indem er sich auf Ptolemaios (Geographie 1,1,1) beruft. Bereits Gisinger, Dilke und Nicolet haben in ihren Arbeiten versucht, den Begriff der Geografie mit der beschreibenden Geografie in Verbindung zu bringen. Betrachtet man jedoch die einschlägigen Textstellen bei Strabon, zeigt sich, dass dieser antike Autor die Begrifflichkeit nicht so scharf wie Ptolemaios fasst und Chorografie häufig in gleicher Bedeutung wie Geografie verwendet.
Michael Rathmann ordnet zwei Neufunde in die gleiche Tradition wie die Tabula Peutingeriana ein (16-20): die Kartenfragmente im Papyrusfragment von Artemidor von Ephesos und eine Abbildung von Oberitalien in den Historiae Ferrarienses des Pellegrino Prisciani (ca. 1435-1518). Seiner Meinung nach ist die Stauchung in die Breite und die Streckung in die Länge das charakteristische Strukturelement. Aus meiner Sicht ist diese Vermutung sehr spekulativ, da von beiden "Karten" nur Fragmente erhalten sind und beim zweiten Werk ein antikes Vorbild nicht erwiesen ist.
Der Autor diskutiert die Form und die Veränderungen der Tabula Peutingeriana während des Kopierprozesses (20-25). In der Chorografie hätten veraltete geografische Information länger als in der physikalischen Geografie Bestand. Der Kopist passte die Beschriftung an den geänderten geografischen Kenntnisstand an (z.B. Eintrag Sera Maior für China) oder aber behielt Orte aus antiquarischem Interesse bei (z.B. Stabios und Pompeis).
Nach Rathmann sind die Gebiete teilweise im annähernd korrekten räumlichen Verhältnis (Korsika und Sardinien; Stiefelform von Italien und Dreiecksform von Sizilien wiedergegeben (26-29). Der Autor vermutet in der Tabula Peutingeriana einen Mittelmeeräquator, der einer Route von Gibraltar, Cagliairi, Kap Passero, Rhodos und Iskenderum folgt. Weiterhin beschreibt er die 555 Ortsvignetten, die keiner inneren Logik folgten (29-31).
Der zweite, weitaus größere Teil des Buchs enthält das Tafelwerk. Da die Form der Tabula Peutingeriana sich nicht für moderne Buchformate eignet, hat sich der Verlag für eine Drittelung der elf Blätter entschieden. Auf der linken Seite befinden sich jeweils eine schwarz-weiße Reproduktion und eine Zuordnung zu den modernen Begebenheiten. Links unten werden zur Orientierung des Lesers die Segmente auf einer modernen Karte abgebildet. Eine Auswahl von antiken Orten und Landschaftsmerkmalen wurde mit modernen Begriffen bezeichnet. Dem Tafelteil folgt ein Anhang mit einigen Endnoten, einer knappen Bibliografie und den Indices (102-112).
Michael Rathmann hat mit der vorliegenden Ausgabe der Tabula Peutingeriana ein im vielfachen Sinne schönes Werk vorgelegt. Die Tafelwerke sind gut aufbereitet, die Reproduktion der Abbildungen gelungen und die Texte gut verständlich und stringent verfasst. Allerdings kann ich aufgrund meiner eigenen Beschäftigung mit der antiken Geografie der zentralen These und der Argumentation des Autors nicht folgen. Ich halte das vorgestellte Konzept der chorografischen Geografie und einem vermuteten hellenistischen Archetypus der Tabula Peutingeriana für nicht schlüssig. Wie bereits oben dargestellt verwendet Strabon diesen Begriff nicht in der gleichen Schärfe wie Ptolemaios. Dazu kommt, dass die etablierten Methoden der Textkritik lediglich eine scheinbar evidente Argumentation bieten, die sich aber bei näherer Nachprüfung nicht halten lässt. Letztlich stützen ja allein die wenigen Ortsnamen und ein vermeintlicher geografischer Wissensstand aus hellenistischer Zeit die These des Autors. Die beiden Sachverhalte lassen sich aber auch damit erklären, dass der spätantike Kartenzeichner seine umfangreichen Kenntnisse der geografischen Klassiker unter Beweis stellen wollte. Dieses Phänomen findet sich insbesondere auch in vielen literarischen Werken dieser Zeit.
Die Tabula Peutingeriana ist in vielfacher Hinsicht ein typisches Produkt der antiken Kartografie, die für uns heutige Menschen gleichzeitig vertraute und fremde Elemente aufweist. Die Abbildung der damals bekannten Welt, die geografische Form von Gebieten ("Italien als Stiefel") und die grafischen Zeichen kennen wir von modernen Karten. Die für die Tabula Peutingeriana typische Stauchung des Raums in die Breite und die heute teilweise nicht mehr ermittelbare Bedeutung der Vignetten erscheinen uns fremdartig. Nach meiner Einschätzung ist diese Erklärung weitaus zielführender als für die Tabula Peutingeriana einen vermeintlichen Archetypus in hellenistischer Zeit und eine chorografische Tradition anzunehmen.
Christian Hänger