Richard J. Evans: Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815-1914. Aus dem Englischen von Richard Barth, München: DVA 2018, 1023 S., 32 Farbabb., ISBN 978-3-421-04733-5, EUR 48,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wolfgang Neugebauer: Wozu preußische Geschichte im 21. Jahrhundert?, Berlin: Duncker & Humblot 2012
Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta 2002
Carl-Wilhelm Reibel: Handbuch der Reichstagswahlen 1890-1918. Bündnisse, Ergebnisse, Kandidaten, Düsseldorf: Droste 2007
Der britische Historiker Richard J. Evans beginnt seine europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts mit den Erinnerungen des württembergischen Steinmetzes Jakob Walter an den Russlandfeldzug Napoleons: Gewalt und Tod, Hunger und Kälte, Not und Elend sind sein Anfang. Das ist programmatisch zu verstehen, denn Evans lässt immer wieder Zeitgenossen zu Wort kommen und entwickelt daraus seine großen Leitlinien. Er hat dabei durchgehend einen wachen Blick für die oft vergessenen Ohnmächtigen, für scheinbar Nebensächliches und Fremdes, für die teils fatalen Folgen der großen Politik für den einfachen Mann und die einfache Frau.
Evans' 19. Jahrhundert ist in acht Kapitel mit jeweils zehn Abschnitten organisiert. Die Lebensgeschichte eines Menschen eröffnet jeweils diese Kapitel. Es sind vier Frauen und vier Männer, deren Biografien und Erfahrungen entweder beispielhaft in das jeweilige Kapitelthema einführen oder die bestimmte Akzente setzen. Dem ersten Kapitel "Das Erbe der Revolution" stehen jene, wohl um 1830 niedergeschriebene Erinnerungen des zehnfachen Familienvaters und späteren Bauunternehmers Walter voran. Es reicht bis zu den Auswirkungen der Julirevolutionen von 1830. In seinem Mittelpunkt stehen die Folgen von einem Vierteljahrhundert Revolution und Weltkrieg. Es galt nicht nur, territoriale Umwälzungen bis dahin ungekannten Ausmaßes zu bewältigen, das europäische Staatensystem in neue Bahnen zu lenken und den zerbrechlichen Frieden auf ein solides Fundament zu stellen, sondern vor dem Hintergrund des "Jahres ohne Sommer" (1817) zugleich auch des Massenelends Herr zu werden und eine neue soziale Ordnung zu festigen. Die große Politik in Wien, London und andernorts findet hier daher ebenso ihren gerechtfertigten Platz wie die geschickt eingefädelte Einführung der Kartoffel in Griechenland (103).
Das zweite ("Widersprüche der Freiheit") und das vierte Kapitel ("Die soziale Revolution") setzen wirtschafts- und sozialgeschichtliche Akzente. Die europaweit uneinheitlich verlaufenden Agrarreformen sind hier ein wichtiges Thema, denn uns begegnen in Europa bis weit ins 19. Jahrhundert Agrargesellschaften. Ebenso wenig fehlen die Ernährung in den schlimmen "hungry forties", der Pauperismus und die damit eng verwobene soziale Frage. Behandelt werden die textilen und industriellen Revolutionen, Urbanisierung, soziale Gruppen und auch die Auswanderungswellen, von denen kaum eine Region verschont blieb: Rund 60 Millionen Europäer dürften im 19. Jahrhundert den Kontinent verlassen haben - die meisten Richtung Nordamerika, aber ein erheblicher Teil auch nach Südamerika, Australien und Neuseeland. Das dazwischen geschaltete, dritte Kapitel "Der europäische Frühling" umreißt die politischen Entwicklungen von den späten 1830er-Jahren über die Revolutionen 1848/49 bis in die frühen 1870er-Jahre. Es unterstreicht die grundstürzenden Folgen von 1848/49 für das internationale System ebenso wie für die politischen Landschaften in den europäischen Staaten.
Der Titel des fünften Kapitels "Die Eroberung der Natur" erinnert zunächst an David Blackbourns glänzende Studie zur Geschichte der deutschen Landschaft im 19. und 20. Jahrhundert. [1] Evans selbst rechnet es dagegen "im weiteren Sinne der Kulturgeschichte" zu (20), und es bietet tatsächlich eine, Umwelthistorikern eigentümlich anmutende Themenpalette von Natur und Mensch. In den Blick geraten nicht nur Ängste vor der bedrohlichen Natur und die Zähmung der vermeintlichen Wildnis, sondern es geht etwa auch um den Wandel von Raum und Zeit, um Seuchen, um Geschlechtskrankheiten, um Wahnsinn und ums Sterben. Dem Kapitel ist insgesamt anzumerken, dass Evans kein ausgewiesener Umwelthistoriker ist. Den Lektüregewinn schmälert das indes nicht. Voll auf ihre Kosten kommen kulturhistorisch Interessierte dann in Kapitel 6 "Das Zeitalter des Gefühls": Religiosität, Bildung, Geschlecht und die Anfänge der Wissensgesellschaft sind große Themenkomplexe.
Die beiden abschließenden Kapitel "Der Aufstieg der Demokratie" und "Die Auswirkungen des Imperialismus" sind dann wieder vorrangig politikgeschichtlich angelegt. Den Auftakt beim europaweiten Ringen um mehr Demokratie macht der Kampf um das Frauenwahlrecht - die berühmte britische Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst steht dafür beispielhaft. Anschließend geraten die anderen großen innenpolitischen Themen und Entwicklungen der Ära zwischen 1871 und 1914 auf die Tagesordnung: der Aufbau des Wohlfahrtsstaates, die Entstehung der politischen Massenmärkte oder auch die damit eng verwobene Krise des Liberalismus. Dennoch erzählt Evans keine Fortschrittsgeschichte, an deren Ende ein Europa der parlamentarischen Demokratie stünde. Dafür bleiben seine vielfältigen Befunde zu disparat. Auch wenn das britische Weltreich gelegentlich (zu) sehr in den Vordergrund gerät: Die weiter zurückreichende Geschichte von europäischem Kolonialismus und Imperialismus, deren rassistische Aufladung, Ausbeutung und Unterdrückung fängt das letzte Kapitel trefflich ein, das in die Julikrise 1914 und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges mündet. Die Krisen des europäischen Staatensystems verschärften sich nach 1890 und sie verlagerten sich von der Peripherie wieder stärker in das europäische Zentrum. Gewalt- und Kriegsbereitschaft begleiteten sie. Insbesondere die Schwäche des Osmanischen Reiches macht Evans als Ursache dafür aus, dass der Balkan zu der Krisenregion aufstieg; nicht zuletzt deshalb wird den Balkankriegen 1912/13 viel Raum gewährt.
Evans' 19. Jahrhundert ist kein klassisches 'langes 19. Jahrhundert', es spart die Französische Revolution und die Napoleonische Ära ebenso aus wie den Ersten Weltkrieg. Wahrscheinlich liegt dies an den Vorgaben der Reihe "Penguin History of Europe", in der das englische Original 2016 erschienen ist. Nicht nur in den sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Abschnitten versteht es der Autor aber immer wieder vorzüglich, in die Epoche der Französischen Revolution zurückreichende Entwicklungen und Entscheidungen einzuweben. Bedauerlicher ist eine andere Entscheidung, die vermutlich der Verlag zu verantworten hat, denn das englische Original trägt den Titel "The Pursuit of Power". Er wird dem Buch sehr viel besser gerecht als der Titel der deutschen Übersetzung, denn tatsächlich ist das Streben nach Macht - aller gesellschaftlichen Gruppen - für Evans die Signatur der Epoche, weshalb er den vielfältigen Machtbegriff weit fasst (19f.). Darum kreist sein Buch. In dieser verstärkt nach der Jahrhundertmitte greifbaren Absicht, Macht zu erhalten, zu erlangen oder auszuweiten, liegt für den britischen Historiker nicht zuletzt auch ein fundamentaler Unterschied zur Frühen Neuzeit. Vor 1789 strebten die Herrscher vor allem Ruhm an, weshalb Tim Blanning den Vorgängerband für die Epoche zwischen 1648 und 1815 entsprechend betitelte. [2]
Evans erliegt in seinem Buch nie der Versuchung, die Geschichten der europäischen Staaten einzeln aneinanderzureihen, souverän streicht er Gemeinsames ebenso wie Differenz heraus und behält die großen Linien im Blick - und das alles in bester angelsächsischer Manier erzählt.
Anmerkungen:
[1] David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007.
[2] Tim Blanning: The Pursuit of Glory. Europe 1648-1815, London 2008.
Nils Freytag