Ewald Frie: Die Geschichte der Welt, München: C.H.Beck 2017, 464 S., 28 Kt., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-406-71169-5, EUR 28,00
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Ewald Frie hat eine Weltgeschichte für junge Leute verfasst: vielleicht kein Kinder-, aber in jedem Fall ein Jugendbuch, das auch Erwachsenen zu empfehlen ist. Es ist ein ungewöhnliches Buch geworden, das ich mit Gewinn gelesen habe. Es ist sehr lesbar geschrieben, in einer unaufgeregten und anschaulichen Sprache, dazu anschaulich illustriert von Sophia Martineck und von Peter Palm mit schönen und klaren Karten versehen.
Ein Jugendbuch zu rezensieren für ein Fachpublikum ist eigentlich keine leichte Aufgabe, da das Genre anderen Gesetzmäßigkeiten und Anforderungen folgt als ein Fachbuch, und ich bin entsprechend mit 'gezogener Handbremse' an die Lektüre gegangen. Das war jedoch unnötig, denn tatsächlich ist in einem Jugendbuch, das formuliert Ewald Frie im Nachwort selbst so, ein mutigerer, freierer Zugang zu einer wirklich neu erzählten Weltgeschichte möglich. Das wäre viel schwieriger und umständlicher zu machen, müsste der ganze Ballast aus Fußnoten und Forschungslandschaft mitgeschleppt und die Darstellung auf sumerische, han-chinesische, arabische und aztekische Quellen gestützt sein, um nur den Anfang der Liste zu nennen. Zumal gar nicht alle Kulturen, um die es hier geht, schriftliche Quellen hinterlassen haben. Frie spannt einen weltumfassenden zeitlichen Bogen von der Neolithischen Revolution bis in die Gegenwart. Hier stellt sich die Frage nach der Strukturierung einer solchen Materialfülle und nach der Erzählgliederung. Der Versuchung, die Weltgeschichte als Gesamtzusammenhang zu erzählen, als Entwicklungsgeschichte mit einem gemeinsamen Weg "der Menschheit" vom Faustkeil zum iPhone, vom Jagdverband zur westlich-liberalen Demokratie, ist Ewald Frie nicht erlegen. Vielmehr hat er es - im Format des Jugendbuchs - geschafft, eine Weltgeschichte aus globalhistorischer Perspektive zu schreiben. Der Trick ist der Verzicht auf Zentrum, roten Faden und Narrativ. Darin besteht der konzeptionelle Beitrag dieses Buchs zur Globalgeschichtsschreibung, deren Grundprämissen hier sehr ernst genommen werden.
Globalgeschichte meint "Ansätze, die sich für Verflechtung und eine relationale Geschichte der Moderne interessieren, nicht-eurozentrisch argumentieren und nationalgeschichtliche Grenzen überwinden wollen". [1] Das ist nicht dasselbe wie Weltgeschichtsschreibung.[2] Diese hat seit dem 19. Jahrhundert den Anspruch, nicht mehr nur die Geschichte der eigenen Region, oder die Abfolge von "Zivilisationen" zu beschreiben, sondern eine Universalgeschichte, eine gemeinsame Geschichte der Menschheit zu schreiben, die im Grunde die Verbreitung überlegener europäischer "Errungenschaften" über den Globus zum Leitmotiv der Weltgeschichte macht. Weltgeschichte wird als eurozentrische Fortschrittsgeschichte konstruiert. "Außereuropäische" Kulturen sind entweder "unsere" Vorgeschichte, wie die antiken Hochkulturen, oder sie haben keine Geschichte, wie etwa die 'afrikanischen'. Schriftlichkeit, Staat und Verwaltung und der jeweilige wirtschaftliche "Entwicklungsgrad" in Bezug auf Europa sind die von europäischen Geschichtsschreibern festgelegten Kriterien dafür, ob man "Geschichte" hat oder nicht. Wer keine hat, ist ein Fall für die Ethnologie. Diese Konstruktion von Weltgeschichte wurde erst im späten 20. Jahrhundert hinterfragt.[3]
Ewald Fries Weltgeschichte stellt diese Perspektive auf den Kopf - oder besser: ins Eck, denn Europa wird in seiner Darstellung über weite Strecken zum Randphänomen. Und zu Recht: Der Mittelmeerraum ist hier der östliche Rand einer integrierten Welt, deren Zentrum im Indischen Ozean und in China liegt. Seine Erzählperspektive ist tatsächlich unerwartet und ungewohnt, auch für Leser, die ihren eigenen Eurozentrismus reflektiert haben. Mir kamen beim Lesen immer wieder spontan Aspekte in den Sinn, die mir "fehlten", oder die ich im ersten Moment für viel zu knapp behandelt hielt. Beim Nachdenken waren es dann doch oft die eigenen Seh- und Erzählgewohnheiten, und nicht die Bedeutung des Vermissten, die mich hatten stutzen lassen. Tatsächlich gelingt Frie eine stringente und eindrückliche Erzählung ohne Mittelpunkt und ohne Zielperspektive, auf die hin eine Entwicklung erzählt werden könnte.
Den Einstieg ins Buch wählt Frie über die Kategorien "Raum und Zeit", indem er zuerst die Geschichte von James Cooks Weltumsegelungen im 18. Jahrhundert und deren Bedeutung für die Erschließung des Raums im globalen Maßstab behandelt, und dann die Varianten vorstellt, in denen Menschen die Zeit geordnet haben. Danach behandelt er die Geschichte unterschiedlicher Kulturen in verschiedenen Regionen der Welt, auf allen Kontinenten: in China, Afrika, Indien, im atlantischen Raum. Die Gliederung ist lose chronologisch, teilweise mit großen zeitlichen Überlappungen. Dies tut der Erzählung gut, da die Eigenlogiken einer Kultur oder Region und deren Geschichte in Ruhe zu Ende erzählt werden; auf eine Gesamtchronologie wird verzichtet, die ohnehin ein Konstrukt aus der Perspektive des Autors hätte sein müssen. Dennoch begegnen sich die Erzählstränge und Weltregionen, nicht alle und nicht immer, aber doch so, dass die Verflechtung - auch über Kontinente hinweg - zum Leitmotiv des Buches wird. Die behandelten Regionen haben für eine gewisse Zeit kulturelle und wirtschaftliche Zentren. Sie bilden Strukturen und Techniken aus, mit denen sie auf die jeweilige Umwelt reagieren; sie haben verschiedene, gemeinsame oder sich mischende Sprachen, haben Schrift oder nicht, bauen Städte mit Gärten und Straßennetzen, betreiben Landwirtschaft und insbesondere Handel, der sie in oft langfristige, stete und wirkmächtige Beziehungen zu anderen Kulturen und Zentren bringt. Daraus und aus militärischer Gewalt erwachsen größere Zusammenhänge, Reiche, die irgendwann wieder zerfallen, sei es aus klimatischen, militärischen oder wirtschaftlichen Gründen. Manchmal wissen wir auch nicht, weshalb, sie verschwinden einfach. Die Kapitel behandeln mal eine Millionenstadt im China des 7. Jahrhunderts, mal ein Tal, Hafenstädte oder Handelszentren, mal "die arabische Welt" im Gesamtzusammenhang. Schrift ist in dieser Perspektive keine Voraussetzung dafür, Geschichte zu haben - sondern Kultur, in all ihren Formen. Vernetzung ist ein zentrales Element dieser Erzählung, über Handel, Sprachkontakte, Austausch, von der Neolithischen Revolution bis in die Gegenwart. So zieht Frie den Bogen bis in die Gegenwart, zum Kapitel, das mit "Die Welt" betitelt ist, und in dem es um das Zusammenwachsen dieses Globus geht: um die Ausbildung internationaler Strukturen seit dem 19. Jahrhundert, und um die gegenwärtigen, unerhört neuen technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, um die Entstehung einer "globalen Megacity", in der wir heute leben. Die Teilhabe an diesen Möglichkeiten ist jedoch ungleich verteilt. In diesem Kapitel schließt sich der Erzählbogen, denn, so Frie: "Wie vor zweihundertfünfzig Jahren gibt es keinen dominierenden Erdteil und keinen dominierenden Ort. Aber anders als zu Zeiten von Captain Cook gibt es auch keine Unabhängigkeit und Abgeschiedenheit mehr." Die Welt und ihre Geschichte sind zusammengewachsen, wenn auch ungleich an verschiedenen Stellen, wie der Teppich, den Frie wiederholt als Bild für die Weltgeschichte bemüht: Dicht gewebte Stellen finden sich ebenso wie Löcher im Gewebe des Ganzen, aber auch Fäden, die sich durch größere Teile hindurchziehen und diese miteinander verbinden. Insgesamt macht dieses Buch deutlich, dass Verflechtung, und nicht Abgeschiedenheit, in der Menschheitsgeschichte der Normalfall war.
Anmerkungen:
[1] Sebastian Conrad / Andreas Eckert / Ulrike Freitag (Hgg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt / New York 2007, 7; Dominic Sachsenmaier: Global Perspectives on Global History. Theories and Approaches in a Connected World, Cambridge 2011.
[2] William McNeill: The Rise of the West. A History of the Human Community, Chicago 1963; Matthias Middell: Die Verwandlung der Weltgeschichtsschreibung. Eine Geschichte vom Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Comparativ, 20 (2010)/6, 7-19.
[3] Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton / Oxford 2000; Sebastian Conrad / Shalini Randeria (Hgg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002; Edward W. Said: Orientalism, New York 1978; Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London 1994; Gayatri Chakravorty Spivak: In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York 1987.
Julia Angster