Andreas Braune / Mario Hesselbarth / Stefan Müller (Hgg.): Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917-1922. Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus? (= Weimarer Schriften zur Republik; Bd. 3), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018, XXXII + 262 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12142-2, EUR 46,00
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Mit dem Sammelband zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) legen die Herausgeber Andreas Braune, Mario Hesselbarth und Stefan Müller die Beiträge eines Kolloquiums zum 100. Jahrestag der Parteigründung gemeinsam mit einer sorgfältig zusammengestellten Quellenauswahl vor. [1] Neben der "Forderung nach Pluralität auf Seiten der Linken" (XXIV) kann der Band vor allem als Plädoyer für eine notwendige Neubetrachtung der Partei als eigenständige Organisation verstanden werden. Vor dem Hintergrund der - ungebrochen aktuellen - "Herausforderung, [...] die Revolution in der deutschen Geschichte zu verorten" (XVIII), argumentieren die Herausgeber gegen einen historischen Determinismus und für ein offenes Verständnis der Umbruchphase zwischen 1916 und 1923. Der Verweis auf Pluralität und Heterogenität gilt für die Revolutionszeit, ihre Akteure und die USPD selbst, deren Stärke das dreifache Auftreten als Massenbewegung war - Parlament, Straße, Betrieb. Die "wie ein bunter Frühlingsstrauß wirkende Vielfalt" (XIV) des Milieus der Arbeiterinnen und Arbeiter trifft daher als Metapher genauso zu wie die Beschreibung der Partei als "Brennglas" (XX), in dem politische, sozioökonomische und kulturelle Entwicklungen beobachtet werden könnten. Und in der Tat: Anhand der USPD ist es möglich, die letzten Tage des Kaiserreichs und die Frühphase der Weimarer Republik mit neuen Forschungsfragen zu diskutieren.
Den Herausgebern gelingt es in der Einleitung, die Ursachen, Kontexte und Folgen der Parteispaltung gemeinsam mit der Revolution von 1918 übersichtlich in gesellschaftliche und politische Zusammenhänge und Zäsuren sowie Forschungsfragen und -entwicklungen einzubinden. Neue Tendenzen werden aufgezeigt, gleichzeitig wird Bilanz gezogen. Wichtig erscheint das Plädoyer, die USPD auch in ihrer Langzeitwirkung zu verstehen, für die zunächst Hartfrid Krause "individualbiographische Wirkungen" (22) vermutet. Er verbindet dabei die Spaltung - in seiner Interpretation ein politischer Generationenkonflikt - mit Parteientwicklung und -rezeption. Auch Wolfgang Kruse, der die USPD thesengestützt als genuin sozialdemokratische Idee begreift, versteht die Partei in diesen langfristigen gesellschaftspolitischen Linien, die in die spätere "Spaltung zwischen SPD und KPD einmündeten" (25). Ähnlich verweist Stefan Bollinger auf die Grundspannung von Reform oder Revolution als ungebrochen aktuelle Herausforderung für die heutige politische Linke: Über die USPD nachzudenken, bedeute, "über das Schicksal der Linken im vergangenen, aber wohl auch im derzeitigen Jahrhundert zu sprechen" (107). Die Idee von dritten Wegen hält er dabei - so lehren in diesem Fall die historischen Beispiele - für langfristig zum Scheitern verurteilt.
Ein Schwerpunkt des Bandes setzt sich naturgemäß mit der prägenden Spaltung der deutschen Sozialdemokratie auseinander. Thilo Scholle gelingt es, diese Spaltung überzeugend und quellennah am Beispiel von Hugo Haase zu skizzieren: Durch Haase, dem der Autor "klare Verbindungslinien" (60) zwischen Vorkriegs- und Revolutionszeit attestiert, wird die Brennglas-Metapher aus der Einleitung mit einer biographischen Analyse klug umgesetzt. Weitere Beiträge analysieren die Spaltung aus Perspektive der Mehrheitssozialdemokratie (Walter Mühlhausen) und des Interfraktionellen Ausschusses (Max Bloch). Diskussionsbedürftig erscheint die Schlussfolgerung von Bernd Braun in seinem Beitrag zur Regierung Max von Badens: Er schließt sich Paul Löbes Einschätzung einer "merkwürdige[n] Revolution" (132) an und verortet den Umbruch in der Schwäche des alten Systems, nicht jedoch in der Bewegungskraft der Revolutionäre. Einleuchtend argumentiert Marcel Bois, der die "Widerstandsakte gegen den Krieg und seine Auswirkungen" (91) im Kontext von Spartakusgruppe und Friedensbewegung hervorhebt. Sein Verständnis der Bewegung und ihrer Entwicklung zeigt dabei auch, dass kriegsbedingte Hungerunruhen und Massenstreiks bereits Teil der Revolutionsphase gewesen sind.
Die Grundfrage "Revolution oder Reform?" bildet den zweiten Schwerpunkt. Mike Schmeitzner nähert sich dieser Frage durch eine biographische Evaluation von Karl Kautsky als sozialdemokratischer "Cheftheoretiker" (135), Axel Weipert dagegen über die Rätesystem-Debatte in der zweiten Revolutionsphase. Eine erhellende Regionalstudie steuert Mario Hesselbarth zur USPD in Thüringen bei: Er verknüpft lokale Traditionen mit Wandlungsprozessen und reichsweiten Entwicklungen. Damit zeigt er zugleich, wie ertragreich lokale Studien zur Revolutionszeit und USPD sein können. Auch Rainer Tosstorff betont in seinem abschließenden Beitrag die Verbindung von Berliner Zentrale und "Funken, die weit in das Reich, die 'Provinz' flogen" (194). Damit plädiert er für die Bedeutung translokaler Dynamiken - eine schlüssige Forschungsanregung, für die in den Archiven reichhaltiges Material wartet, nicht zuletzt aufgrund neuer Digitalisierungsprojekte. [2]
Das von den Herausgebern und Autoren identifizierte Forschungsdesiderat einer umfangreichen neuen Gesamtdarstellung der USPD als eigenständige Organisation besteht nach wie vor. Dabei gilt es nicht nur, die USPD im Hinblick auf die "Milieuvielfalt in der Arbeiterschaft" (XIV) und als sozialistische Linkspartei "im Spannungsfeld von Sozialdemokratie und entstehendem Kommunismus" (XX) zu verstehen. Schließlich ist die Forderung einer "Binnendifferenzierung" der Arbeiterbewegung so alt wie die Grundlagenforschung zur USPD selbst. [3] Vor allem muss eine neue Darstellung, für die dieser Sammelband differenzierte Beiträge und anregende Impulse geliefert hat, der Partei als soziale Bewegung "auf der Straße" in der offenen Umbruchphase zwischen 1916 und 1923 gerecht werden. Dies ist dringend nötig, stammen die verdienstvollen USPD-Standardwerke doch noch immer aus der Hochzeit der Sozial- und Arbeiterbewegungsgeschichte der 1970er Jahre. [4] Abschließend kann daher der treffliche Aufruf der Herausgeber unterstrichen werden: "Muss also auf die Pluralisierung der Kommunismen und Marxismen durch die historische Forschung nicht auch sozialdemokratisches Denken und Handeln vervielfältigt werden?" (XXIV) Die USPD bleibt also eine Herausforderung.
Anmerkungen:
[1] "Kolloquium zur Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung", 6.4.2017 in Gotha; https://www.weimarforschung.uni-jena.de/Veranstaltungen/vergangene+Veranstaltungen/Kolloquium+2017_+100+Jahre+Gründung+der+USPD.html
[2] Exemplarisch sei auf das abteilungsübergreifende Inventar zu "Revolution und Systemwechsel 1918 und 1919" der Landesarchive NRW verwiesen; http://www.archive.nrw.de/LAV_NRW/jsp/findbuch.jsp?archivNr=185&id=21083&tektId=0
[3] Diese Forderung stammt bereits von Erhard Lucas, vgl. dessen verdienstvolle Lokalstudie zu Arbeitertypen und Radikalismus aus dem Jahr 1976: Zwei Formen von Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung, Frankfurt/M. 1976, hier 280.
[4] Dazu gehören im Wesentlichen Hartfrid Krause: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt/M. 1975; David W. Morgan: The Socialist Left and the German Revolution. A History of the German Independent Social Democratic Party. 1917-1922, Ithaca 1975; sowie Robert F. Wheeler: USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution, Frankfurt/M. u. a. 1975. Hinzugekommen sind allerdings neue Regionalstudien oder biographische Zugänge sowie Forschungsbeiträge zu Spartakusbund und nicht zuletzt Arbeiten zur Revolution von 1918.
Felix Berge