Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek: Rowohlt Verlag 2019, 613 S., ISBN 978-3-498-00678-5, EUR 22,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Matthias Peter: Die Bundesrepublik im KSZE-Prozess 1975-1983. Die Umkehrung der Diplomatie, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Thomas Großbölting: Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989/90, Bonn: bpb 2020
Benedikt Wintgens: Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans, Düsseldorf: Droste 2019
Angelo Bolaffi : Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise. Aus dem Italienischen von Christine Ammann und Antje Peter, Stuttgart: Klett-Cotta 2014
José Brunner / Doron Avraham / Marianne Zepp (Hgg.): Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge-Ausprägungen-Konsequenzen, Göttingen: Wallstein 2014
Die im Februar dieses Jahres bei Rowohlt erschienene emotionshistorische Studie "Republik der Angst" des Historikers Frank Biess erfreute sich nach ihrem Erscheinen einer breiten Rezeption. Neben ausführlichen Besprechungen in den Feuilletons und Spitzenplätzen in den Sachbuch-Bestenlisten erreichte sie eine Nominierung für den Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse. Angesichts gesellschaftlich virulenter Angstobjekte und -szenarien - man denke an Debatten um die "Klimakatastrophe", "Überfremdung", "Vormarsch der Rechten" oder übermächtige künstliche Intelligenzen - scheint Biess mit seiner Angstgeschichte einen zeitgenössischen Nerv zu treffen.
Biess zielt mit seiner Studie auf eine Relativierung allzu teleologisch-linearer Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik. Demokratisierung, Liberalisierung und Stabilisierung, so Biess, würden erst in der gelassenen Rückschau zu zweifelsfreien Konstituenten eines Erfolgsnarrativs, für die Zeitgenossen hingegen seien diese Prozesse stets prekär gewesen. Er strebt deshalb nicht danach, zeitgenössische Ängste und pessimistische Zukunftsprognosen retrospektiv als unbegründet zu widerlegen, sondern nimmt diese als Zeugnis gesellschaftlicher Stimmungen, Erwartungen und Problemaushandlungen ernst. Biess' Studie erzählt die Geschichte Westdeutschlands in Form von acht "Angstzyklen", also Konjunkturen unterschiedlicher, gesellschaftlich dominanter Ängste. Somit will das Buch neben einer dezidiert komplementären, alternativen Perspektive auch eine erste emotionshistorische Überblickdarstellung der Bundesrepublik liefern. Der Autor möchte nicht nur die sich wandelnden Angstobjekte sowie die normativen Rahmenbedingungen für die Artikulation von Emotionen (emotionale Regime) untersuchen, sondern darüber hinaus eine "genuine Geschichte der Emotionen" schreiben, in der Gefühle "als eigenständige, aktive und kausale Kräfte" verstanden werden. (40)
Entstanden ist eine material- wie thesenreiche Studie gesellschaftlicher Ängste seit 1945 von beeindruckender Dichte und beachtlichem Umfang (über 600 Seiten) in ansprechender Sprache. Anhand diverser Quellengattungen - von Tagebüchern, Briefen, Liedgut und Literatur über Zeitungs- sowie Regierungsberichte bis hin zu Umfragen von Meinungsforschungsinstituten - und unter Hinzuziehung vorliegender Forschungen arbeitet Biess Ängste in der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft heraus. Diese fasst er, beginnend mit der "Vergeltungsangst" in der unmittelbaren Nachkriegszeit, kapitelweise und in weitgehend chronologischer Abfolge zu Angstzyklen zusammen. Den Abschluss der historischen Analyse bildet die "Apokalyptische Angst" der Umwelt- und Friedensbewegung in den 1970er und -80er Jahren, bevor der Autor in einem ausführlichen Epilog den Bogen bis zur Gegenwart spannt.
Biess identifiziert in der Geschichte der Bundesrepublik die "Entwicklung von einem repressiven zu einem expressiven emotionalen Regime" (35): Während die politische Kultur der jungen Demokratie expressive Gefühlsausdrücke ächtete und sich durch demonstrative Nüchternheit von nationalsozialistischen Gefühlsexzessen abzugrenzen suchte, setzte in den 1960er Jahren ein Wandel ein. Der Autor schreibt dabei der Studentenbewegung eine "Schlüsselrolle" (245) zu, da sie Emotionen in die politische Debatte einbrachte und einen expressiven Gefühlsausdruck propagierte. Über das linksalternative Milieu der 1970er Jahre seien die neuen emotionalen Normen dann in die Mehrheitsgesellschaft diffundiert und hätten so die starke emotionale Mobilisierung und Argumentation der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre erst ermöglicht. Diese lineare Erzählung differenziert Biess jedoch in angemessener Weise: Er verweist auf die Pluralität und Parallelität emotionaler Regime und berücksichtigt die Kontinuität repressiver emotionaler Normen - in der Auseinandersetzung mit der Friedensbewegung beispielsweise prominent verkörpert durch Helmut Schmidt. Des Weiteren erkennt der Autor im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte eine "Verschiebung der Angstobjekte von der äußeren zur inneren Bedrohung" (37) sowie eine konstruktive Funktion der Angst, die durch die Steigerung demokratischer Wachsamkeit "paradoxerweise auch zur Stabilisierung und letztlich dem 'Erfolg' der Bundesrepublik" (21) beigetragen habe. Die Thesen verbinden die einzelnen Angstzyklen miteinander. Allerdings verbleiben nach der Lektüre einige Unklarheiten: So wären zum Beispiel deutlichere Verweise auf konkrete Resultate der Angstdebatten wünschenswert gewesen, um deren stabilisierende Funktion zu belegen.
Die Eröffnung neuer Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte ist ein jüngerer Trend der Forschung. [1] Biess liefert hierzu mit seinem emotionshistorischen Ansatz, der zeitgenössische Ängste als gesellschaftliche Erfahrungen und Erwartungshaltungen ernst nimmt, einen wichtigen und originellen Beitrag. Überzeugend ist seine Dekonstruktion des populären Schlagwortes "German Angst": Er verweigert sich Vorstellungen einer nationalen Kollektivpathologie, verweist auf die Entstehung der Phrase in den 1980er Jahren und arbeitet ihre Funktion als pejorative Kritikformel in den Debatten um die deutsche Nichtteilnahme am ersten Irakkrieg 1991 heraus. Zudem werden in der Zusammenschau grundsätzliche Charakteristika und Motive der Angstkommunikation deutlich, wie zum Beispiel die Tendenz der Personifizierung von Angstobjekten in Figurationen des "Anderen". In Angstfiguren, wie dem verführerischen Werber der französischen Fremdenlegion (1950er Jahre), dem Kommunisten (1950er/60er Jahre), dem Terroristen oder Sympathisanten (1970er Jahre) oder dem Asylbewerber (seit den 1980er Jahren), konnten zeitgenössische Ängste gebündelt und konkretisiert werden.
Methodisch fehlt es dem analytischen Zugriff des Buches jedoch an Präzision und Transparenz. Biess' "Fokus auf primär politische Ängste im weitesten Sinne" (34) hätte einer erläuternden Spezifizierung bedurft, zumal AIDS und der Überwachungsstaat als Angstszenarien der 1980er Jahre nicht oder nur am Rande thematisiert werden. Auch eine genauere Begriffsbestimmung von "Angst" (gegebenenfalls in Abgrenzung zu verwandten Begriffen und Phänomenen, wie "Sorge", "Unbehagen", "Panik") wäre notwendig gewesen, um die Quellenauswahl sowie deren Auswertung transparent zu machen. Generell bleiben qualitative wie auch quantitative Gewichtungen zwischen den einzelnen Angstzyklen weitgehend aus: War die Angst vor Vergeltung der frühen Nachkriegszeit nicht von einer anderen, existenzielleren Qualität als die moralische Angst vor einer Verführung männlicher Jugendliche durch Werber der französischen Fremdenlegion in den 1950er Jahren? Und wie weitreichend war die gesellschaftliche Verbreitung der jeweiligen Ängste, die nach Biess ganze Dekaden prägten? Zudem erfordert das Verhältnis zwischen Gefühlsausdruck und -empfinden sowie die damit einhergehenden Fragen nach der Aussagekraft historischer Quellen über Gefühle eine stärkere Reflexion und Berücksichtigung in Methode und Analyse. Unter Verweis auf William Reddy deutet Biess Gefühlsäußerungen als "integralen Bestandteil des Gefühls selbst" (29) und suggeriert eine weitreichende Deckungsgleichheit zwischen Ausdruck und Empfindung. Auch wenn er durchaus einräumt, dass das Verhältnis zwischen Artikulation und innerer Erfahrung nicht überprüfbar ist, folgen hieraus keine konkreten methodischen Schlüsse. Die ambivalenten Rückkopplungsprozesse zwischen Ausdruck und Empfindung, welche Reddy durch die Beschreibung der selbsterforschenden und -verändernden Dimension von Emotionsäußerungen akzentuiert, bleiben somit außen vor. [2] Daneben verkomplizieren Intentionen der sich äußernden Person sowie die je nach Äußerungssituation und -modus variierenden Einwirkungen auf die Gefühlsexpression das Verhältnis zwischen Ausdruck und Empfindung. Hierbei handelt es sich um generelle epistemologische und methodische Schwierigkeiten der Emotionsgeschichte, welche auch Biess' Versprechen entgegenstehen, Angst als eine kausale historische Kraft greifen zu können.
Eine - zugegeben, weniger plakative - Charakterisierung der Studie als Untersuchung von Angstdiskursen und Kommunikationsstrategien wäre deshalb angemessener gewesen. Denn genau dies liefert Biess in seiner Studie "Republik der Angst": Anschaulich und spannend arbeitet er den Wandel von Angstobjekten sowie emotionalen Regimen heraus und identifiziert zentrale Charakteristika der Angstkommunikation in der westdeutschen Geschichte. Dadurch ist "Republik der Angst" eine bereichernde Ergänzung zu bestehenden Darstellungen westdeutscher Geschichte und regt zu weitergehenden Überlegungen über die Rolle von Ängsten in der Geschichte sowie emotionshistorische Zugriffe auf diese an.
Anmerkungen:
[1] Siehe etwa Christian Schletter: Grabgesang der Demokratie. Die Debatten über das Scheitern der bundesdeutschen Demokratie von 1965 bis 1985, Göttingen 2015; sowie Tagungsbericht: Stabilitäten und Unsicherheiten. Neue Perspektiven auf die bundesrepublikanische Demokratie, 14.03.2019 - 15.03.2019 Königswinter, in: H-Soz-Kult, 13.05.2019, URL: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8267.
[2] Vgl. William M. Reddy: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, New York 2001, 101-105, 122, 128f.
Johannes Pantenburg