Benedikt Wintgens: Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 178), Düsseldorf: Droste 2019, 618 S., 10 Farb-, 34 s/w-Abb., ISBN 978-3-7700-5342-1, EUR 68,00
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Pünktlich nach der Bundestagswahl 1953 erschien eine düstere Satire auf die junge Republik. Wolfgang Koeppen karikierte im Treibhaus das politische Bonn, seinen Parlamentsbetrieb, seinen Medienrummel, seine Kommunikationsweisen. Der Roman war ein lethargischer Abgesang auf die Sinnhaftigkeit pazifistischer Politik in Zeiten von Westbindung, Wiederaufbau und Wiederbewaffnung, er war "durchzogen vom Uneinverstandensein" mit der Restauration (17). Benedikt Wintgens hat dem Treibhaus eine facettenreiche "politische Kulturgeschichte" gewidmet. Roman und Erstrezeption trügen exemplarischen Charakter für die politische Kultur der frühen Bundesrepublik. In der Tat handelte es sich, so auch Axel Schildt, bei der Treibhaus-Kontroverse um die "zentrale literarische Auseinandersetzung der 1950er Jahre" [1]. Wintgens will der Intellectual History solche Kontroversen und mithin literarische Quellen erschließen. Als Historiker und Literaturwissenschaftler scheint er dazu prädestiniert und kann sich auf eine ergiebige Koeppen-Forschung stützen. Herzstück der Arbeit ist jedoch eine genuin zeithistorische Analyse der Rezensentenkreise und ihrer politisch-ideellen Wurzeln.
Das erste Kapitel fragt nach biographischen und intertextuellen Bezügen im Parlamentsroman. Das Treibhaus sei kein Schlüsselroman, trage jedoch gewisse Züge eines Schlüsseltexts. Sie ergeben sich aus dem realpolitischen Stoff, den der eifrige Zeitungsleser Koeppen "in Echtzeit" (128) zwischen Ende 1952 und Frühsommer 1953 verarbeitet hat. Bei aller Fiktionalität sind zentrale Figuren doch gewissen Realvorlagen entlehnt, so Kanzler Adenauer, Oppositionsführer Schumacher ("Knurrewahn") und einige Abgeordnete. Koeppen zielte jedoch nicht darauf, seine Romanfiguren als Persönlichkeiten zu entwickeln. Ihm ging es um Karikaturen auf dem Kenntnisniveau herkömmlicher Zeitungsleserinnen und -leser.
Koeppen, der Bonn und das Bundeshaus nur einmal kurz besucht hatte, schrieb aus der informierten Außenperspektive, die in der literarischen Binnenperspektive allenthalben erkennbar bleibt. Denn sein Protagonist, der elegische linke Abgeordnete Felix Keetenheuve, kommt eigentlich nie im Bundestag an: Er will und kann nicht mitspielen. Anders als manche Literaturwissenschaftler erkennt Wintgens in Keetenheuve in erster Linie eine literarische Verarbeitung der eigenen Elegie und der eigenen Biographie Koeppens, der nach einem kurzen Aufenthalt am Wunschexilort in Paris 1933 enttäuscht nach Berlin und abermals 1938 aus wirtschaftlichen Gründen aus dem niederländischen Exil zurückgekehrt war, um sich als Drehbuchautor im 'Dritten Reich' zu verdingen. Zum konsequenten linksintellektuellen Emigranten war er nie geworden. Sein Protagonist Keetenheuve hat zwar den Mut gehabt, dauerhaft ins Exil zu gehen und dort sogar als Radiosprecher im Dienst der Alliierten zu arbeiten. Traurig, verbittert und stumm ist er dafür umso mehr, als er nach seiner Remigration versucht, pazifistische Politik zu machen - und daran politisch wie privat zugrunde geht. Zwar stelle das Treibhaus, so Wintgens, eine zornige Satire, ja düstere Groteske auf den Bonner Politikbetrieb dar, doch sei Koeppens Intervention zwar kritisch, aber nicht antiparlamentarisch. Eher handele das Treibhaus von der Sinnlosigkeit parlamentarischer Kommunikation in der Mediendemokratie, gespiegelt auch im Scheitern persönlicher Kommunikation, und von der Ortlosigkeit des sensiblen Intellektualismus im pragmatischen Politikbetrieb. Nicht sonderlich stark indes gewichtet der Autor Koeppens Restaurationskritik, die sich im Roman nicht nur auf das Parlament richtet, sondern auch auf die NS-Funktionseliten in der Bonner Bürokratie und im Sicherheitsapparat. Emblematisch dafür steht die Figur Frost-Forestier (ein Hybrid aus Gehlen und Globke), die bei Wintgens nicht analysiert wird, aber eben auch die Schwüle des Treibhauses ausmacht.
Im zweiten Kapitel widmet sich Wintgens der Entstehung des Bonner Bundeshauses und der mit ihm verbundenen Treibhaus-Metaphorik. Rekonstruktionen rheinländischer Kungelei und administrativer Einfädelungen bereits vor der Entscheidung durch das Plenum für Bonn (und gegen Frankfurt) wechseln sich mit architekturhistorischen Abhandlungen und kulturgeschichtlichen Rückblenden auf die Gewächshausmetaphorik der Aufklärung oder den Crystal Palace in London als Prototyp moderner Eisen-Glas-Konstruktionen ab. Der Bundeshaus-Komplex am Rheinufer stand dann vor allem in der Tradition des Bauhauses und des Werkbundes, ästhetisch wie personell. Die architektonische Botschaft lautete auf Transparenz und Vergänglichkeit, Politik sollte beleuchtet und die Bundesrepublik als Provisorium markiert werden. Doch die demokratische Ästhetik wurde zum Bumerang, die Glasfassaden des Plenarsaals wie des Bundestagsrestaurants brachten problematische Glashaus- und Aquariums-Analogien hervor. Auch die vom Architekten Hans Schwippert beanspruchte Funktionalität des Parlamentsgebäudes wurde im Arbeitsalltag Lügen gestraft. Umbauten prägten so das Bonner parlamentarische Raumgefüge und unterstrichen das Provisorische.
Von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Romans scheint der Diskurs um "Schund und Schmutz" gewesen zu sein, in den sich Koeppen offenbar provokativ einschreiben wollte. Dass Keetenheuve, gerade verwitwet, im Treibhaus ein Flüchtlingsmädchen missbraucht, dass überhaupt Sexualität und Mordlust im Roman eine prominente Rolle einnehmen, verhalf dem Treibhaus zu Pornographie-Analogien, die den Roman ins Fadenkreuz zensurpolitisch engagierter Westdeutscher rückten. Von hier aus führt die Studie ins dritte Kapitel über, das der Kontroverse um das Treibhaus in der Medienöffentlichkeit gewidmet ist. Wintgens gliedert es nach unterschiedlichen politisch-ideellen Clustern der Kritik, die sich aus nicht weniger als 80 Rezensionen und weiteren Adaptionen des Treibhaus-Stoffes im Bonner Umfeld ergeben. In einer mitunter fesselnd geschriebenen Geschichte der Literaturkritik und des Zeitungs- und Zeitschriftenmarktes untersucht er die Positionierungen der Kritiker akribisch auf die zugrundeliegenden Biographien, Netzwerke, Interessen und Koeppen-Kontakte seit den 1920er Jahren - wobei die systematische Analyse ihrer Parlamentarismusvorstellungen allerdings in den Hintergrund rückt.
Bezeichnenderweise erwiesen sich die Rechtsintellektuellen der Weimarer Republik, darunter Ernst von Salomon, als prominente Fürsprecher des Romans, wohingegen Rezensenten aus dem Umfeld des Bonner Korrespondentenwesens, der SPD und der Westbindungsverfechter harsche Kritik äußerten. Stil wie Inhalt des Werkes polarisierten; Streitpunkte waren der politische Charakter des Romans und die Legitimität der Kritik an den Bonner Verhältnissen. Indem die einstigen Vordenker der konservativen Revolution ihn nicht als politisch gelesen wissen wollten, instrumentalisierten sie Koeppen für ihre ostentative Selbstverortung im politischen Abseits der liberalen Demokratie, und in mancher Hinsicht sieht Wintgens den "Außenseiter" (130) Koeppen dort auch. Demgegenüber waren die Rezensenten aus dem Bonn-apologetischen Umfeld nachgerade blind für die Literarizität des Romans, warfen Koeppen Uninformiertheit vor und sahen ihn seine persönliche Verbitterung auf die Politik projizieren. Für Fritz René Allemann oder Klaus Harpprecht, aber auch für den einstigen Wegbegleiter Koeppens bei der Weltbühne, Walther Karsch, war der Verriss des Romans gleichbedeutend mit der Verteidigung einer Republik, die ihnen zu fragil erschien, als dass sie gegen literarische Satire immun sein könne. Das mutmaßlich antipolitische Treibhaus gefährdete aus dieser Perspektive die Stabilisierung der Demokratie, weil es die Leserschaft aufwiegele. Mit Passivität und Larmoyanz, ja Nihilismus ließ sich auch nach Einschätzung der Pragmatiker unter den Sozialdemokraten keine Politik machen, sie vermissten im Roman die Haltung. Jüngere Rezensenten der sogenannten 45er-Generation waren bisweilen sensibler für den restaurationskritischen Impetus und die sorgenvolle Botschaft des Romans im Kontext der angestrebten Wiederbewaffnung, konnten jedoch der elegischen Apathie Keetenheuves - dem fehlenden Elan, handelnd im Bonner Staat Verantwortung zu übernehmen - ebenfalls nichts abgewinnen und verhandelten so auch ihr Bild des idealen Parlamentariers, der an seiner Aufgabe nicht verzweifeln dürfe. Selbst eindeutige Gegner der Westbindung, Sozialisten und Dritte-Weg-Neutralisten bemängelten bei allem Lob für den pazifistischen Roman die Schwäche des männlichen Protagonisten - die wiederum als unpolitisch ausdeutbar war.
Warum das westdeutsche Publikum an Koeppens Roman nicht sonderlich interessiert war, bliebe noch zu klären. Am fehlenden Interesse der Medienöffentlichkeit, so Wintgens, kann es jedenfalls nicht gelegen haben. Mit seiner Studie legt er ein bravourös recherchiertes und elegant geschriebenes Buch vor - über die Personen und Netzwerke, die das politische Feuilleton nach Ende der Besatzungszeit konstituierten, und über die Genese des politischen Bonns, an der sich die Treibhaus-Debatte entzündete. Laut Wintgens stand diese Kontroverse für den demokratischen Selbstzweifel, der die frühe Bundesrepublik kennzeichnete - und für eine lernende Demokratie. Aus der Lektüre ergibt sich vor allem das Bild einer diversifizierten Meinungslandschaft, die in der Treibhaus-Debatte die jeweilige Nähe oder Distanz zum Bonner Demokratie-Modell vermaß - und damit auch die Frage, wieviel Kritik sich auf dem Weg nach Westen verantworten ließ.
Anmerkung:
[1] Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hg. von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020, 534.
Claudia Christiane Gatzka