Hans Ulrich Bächtold (Hg.): Heinrich Bullinger Werke. Vierte Abteilung: Historische Schriften. Bd. 1: Tigurinerchronik, Zürich: TVZ 2018, XXXVII + 1813 S., ISBN 978-3-290-17851-2, EUR 450,00
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Diese beeindruckende, materialreiche Edition der Tigurinerchronik Heinrich Bullingers, vorgelegt von Hans Ulrich Bächtold, erschließt eine der wichtigen reformatorischen Historiographien für die breite wissenschaftliche Öffentlichkeit. Der Beschluss zur Edition fiel bereits im Jahr 2004, umso glücklicher konnte die Arbeit nun zu Ende geführt werden. Sie bildet nach den veröffentlichten Bibliographien (Abt. 1), Korrespondenzen (Abt. 2) und Theologica (Abt. 3) den in drei Teilbände unterteilten ersten Band der Abteilung 4 der Bullinger-Werkausgabe, die sich den historischen Schriften widmen wird. Von diesen liegt bisher allein eine historisch-kritische, doch gänzlich unkommentierte Edition der Reformationsgeschichte vor. [1] Die Ausgabe der Tigurinerchronik umfasst zwei Textbände mit insgesamt 1388 Seiten und einen weiteren Band über 425 Seiten mit detailliertem Inhaltsverzeichnis, Personen- und Ortsregister, Sprachglossar, Quellen- und Literaturverzeichnis und Textabbildungen.
Das dem ersten Textband vorgeschaltete Vorwerk umfasst 27 Seiten. Dem Vorwort folgt eine präzise, alles Wesentliche umfassende Einleitung, die den Historiker Bullinger vorstellt, dann knapp die Entstehungsgeschichte und Gliederung der Tigurinerchronik, ihren Inhalt und die Methodik umreißt. Ausführungen zur konfessionellen wie lokalpatriotisch-politischen Ausrichtung des Werkes und zur Rezeption runden diesen Abschnitt ab. Folgend (XIX-XXIII) beschreibt der Herausgeber seinen Hauptüberlieferungsträger, die beiden großen Foliobände Ms. Car 43 und 44, die dem Großmünsterstift entstammen und sich heute in der Zentralbibliothek Zürich befinden. Sie waren ursprünglich von Bullinger zusammen mit den beiden Foliobänden seiner Reformationsgeschichte der Geistlichkeit des Großmünsterstifts übergeben worden (XIII). Nebenbei sei erwähnt, dass die Tigurinerchronik in mehr als 200 europaweit aufzufindenden Abschriften auf uns gekommen ist. [2] Der Geschichte der Aufbewahrung und einer kodikologischen Beschreibung fügt Bächtold eine Auflistung der nachweisbaren Schreiberhände an (XXI). Der Text ist mehrheitlich eine autographe Reinschrift Bullingers, jedoch versehen mit eigenen Korrekturen und Ergänzungen am Rand und auf eingelegten Blättern. Bullinger schrieb Frühneuhochdeutsch mit lateinischen Einsprengseln und durchsetzt mit zürcherdeutschen Begriffen, die das überaus hilfreiche Sprachglossar im dritten Teilband (20-64) erklärt. Neben Bullingers Hand finden sich Annotationen des Stiftsbibliothekars Johann Jakob Fries, eine kopierte Ratsurkunde von Propst Felix Frei (907f.), Abschriften von Dokumenten von Israel Stäheli (953-987) sowie ein "Großes Mandat" im Druck. Das Vorwerk wird beschlossen durch eine genaue Beschreibung der Seitenfolge des Manuskripts und seiner Lagen, den Editionsrichtlinien und einem Verzeichnis der Abkürzungen samt Bibliographie der in der Einleitung verwendeten Literatur. Die Entscheidung, ein solches Extraliteraturverzeichnis neben einer Liste der im Sachapparat benutzten Literatur im dritten Teilband zu führen, ist eine der sehr wenigen, die des Überdenkens wert erscheinen.
Die beiden Textbände umfassen das Material entsprechend den originalen Foliobänden. Band 1 umfasst acht Bücher, die chronologisch vom biblischen Abraham bis zum Jahr 1400 reichen, Band 2 enthält sechs Bücher, die den Zeitraum bis zum Vorabend der Reformation abdecken, zudem eine Geschichte des Großmünsterstifts, die genannten Stäheli-Abschriften von Schulsatzungen sowie das Große Mandat.
Der Inhalt des dritten Teilbandes wurde bereits vorgestellt, erwähnenswert ist, dass das sehr reiche und fein gegliederte Personen- und Ortsregister über 286 Seiten (129-415) genaue Verweise auf Seite und Zeile liefert. Die Zürcher kirchlichen Institutionen Großmünster, Stift und Fraumünster besitzen eigene Lemmata mit Untergliederungen gemäß Orten oder Sachen wie Kirchturm, Kapellen, Lateinschule, Glocken. Übersichtlich gestaltet ist das Quellen- und Literaturverzeichnis, allerdings fallen einige wenige verdoppelte Auflistungen auf ("Bull. schr."; "Bull. zum Tage"), vermutlich weil sowohl auf die Textausgabe als auf die wissenschaftlichen Einleitungen zugegriffen wurde. Sind Exemplare aus Bullingers Bibliothek nachweisbar, so sind diese im Quellenverzeichnis aufgeführt respektive ihr fehlender Nachweis. Das Gesamtwerk schließt mit acht signifikanten Abbildungen von Seiten der Handschrift, die Reinschrift im Kanzleistil, spätere Einträge und Korrekturen sowie marginale Zeichnungen historischer Dinge zeigen (418-525). Das einzige, was fehlt, ist ein über die bibliographischen Angaben hinaus reichendes Abkürzungsverzeichnis.
Die Textwiedergabe ist vorlagengetreu und weitgehend zeichengetreu, nicht aber - bis auf Verse und Tabellen - zeilengetreu. Satzanfänge und Eigennamen werden großgeschrieben. Einige Zeichen wie die Schreibung von 'u' und 'v', die sich der konsonantischen bzw. vokalischen Verwendung anpasst, sind normalisiert, allerdings wurden alle 'j' überraschend zu 'i'. Bullingers Interpunktion wurde beibehalten, Ergänzungen erfolgen in eckigen Klammern. Die Verwendung editorischer Zeichen ist übersichtlich. Der originale Seitenumbruch wird mit einem einfachen senkrechten Umbruchstrich und der Folioangabe am Rand angegeben, was den Gepflogenheiten der Bullinger-Werkausgabe folgt. Da die Kolumnentitel des Manuskripts mit einer Textanmerkung am Umbruchstrich versehen im Textapparat angezeigt wird, hat das Zusammenfallen von Seitenumbruch und Absatzanfang zur Folge, dass ein Absatz mit senkrechtem Umbruchstrich und davorgesetzter Anmerkung beginnt (Bd. I.1, S. 164f.). Zitiert Bullinger Akten oder andere Literatur, ist dieser Text mit doppelten Anführungszeichen (Guillemets) gekennzeichnet (1277-1280, 1281f., 1305-1307), erwähnt er Buchtitel, sind diese mit einfachen Anführungszeichen markiert (1304). Was in anderen Editionen üblich, führt hier zu einer geringfügigen Abweichung von der ansonsten bis in die Interpunktion betriebenen Vorlagentreue der Textwiedergabe.
Die Tigurinerchronik weist den Autor Bullinger als einen quellenkundlich versiert arbeitenden Historiker aus, der seine Historiographie zur Legitimierung der Zürcher Reformation einsetzte. Letztlich führte die das an seinem Lebensende verfasste Tigurinerchronik Werk die schon 1525 in der "Anklag und ernstliches ermanen" niedergelegte geschichtstheologische Grundhaltung breit aus. Gott ist Lenker der Geschichte, die Schweizer und besonders Zürcher in Analogie zu Israel das privilegierte Volk, das durch die Übernahme päpstlichen Wesens und die Bündnispolitik zwar einen Niedergang erfuhr, der aber durch die Reformation und die Ablehnung des Bündnisses mit Frankreich aufgehalten und verkehrt werden konnte. Das Quellenmaterial ist divers: von der eigenen Eidgenössischen Geschichte über Literatur des Großmünsterstifts, handschriftliche Chroniken, Archivgut des städtischen Rates, Gehörtes und Gesehenes wie Einsichten aus der Korrespondenz mit Vadian, Tschudi und Stumpf. Bullinger geht chronologisch vor, bricht aber oft aus dieser Erzählung aus, wenn er Themenstränge intensiver verfolgt. Zürich und die Schweizer sind der Mittelpunkt der Darstellung, mit einem Augenmerk auf die kirchliche Verhältnissekirchlichen Verhältnisse. Die Stadt Zürich, die stets "lust zu der waren religion" gehabt habe, erlangt eine herausragende Stellung in der Christentumsgeschichte, da hier der wahre Glaube auch im Verborgenen gelebt habe. Diese reformatorische Legitimationsstrategie findet sich in ähnlicher Weise bei zeitgenössischen lutherischen Geschichtsschreibern (Friedrich Mykonius, David Chytraeus).
Mit dieser vorbildlich edierten und tief erschlossenen Ausgabe der Tigurinerchronik schließt der Herausgeber Hans Ulrich Bächtold eine Lücke in der Erforschung reformatorischer Geschichtsschreibung. Das vielseitige Material wartet auf eine breite Auswertung.
Anmerkungen:
[1] Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte, hg. von Johann Jakob Hottinger und Hans Heinrich Vögeli, Frauenfeld 1838-1840.
[2] Christian Moser: Die Dignität des Ereignisses, Leiden u.a. 2012, 368-420.
Harald Bollbuck