Sergej Z. Sluč / Carola Tischler (Hgg.): Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Band 2: Januar 1935 - April 1937, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, 2 Bde., XVI + 1781 S., ISBN 978-3-11-054547-0, EUR 229,00
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Sergej Z. Sluč / Carola Tischler (Hgg.): Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Band 1: 30. Januar 1933 - 31. Dezember 1934, München: Oldenbourg 2014
Spätestens mit dem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt vom 26. Januar 1934 stand fest, dass die seit 1922 nach dem Vertrag von Rapallo etablierten Sonderbeziehungen zwischen Moskau und Berlin der Vergangenheit angehörten. Das NS-Regime hatte sich gegen die Auffassung der Diplomaten im Auswärtigen Amt endgültig auf einen antisowjetischen Konfrontationskurs verlegt. Und dieser zielte auf lange Sicht nicht nur auf Deutschlands Vormachtstellung in Europa, sondern wollte dem Deutschen Reich vor allem auf Kosten der UdSSR neuen "Lebensraum im Osten" verschaffen. Die beiden Fortsetzungsbände der 2014 ins Leben gerufenen Edition beleuchten für Januar 1935 bis April 1937 jene interessante Zwischenphase, in der zumindest die UdSSR im internationalen Mächtesystem eine bemerkenswerte außenpolitische Zweigleisigkeit praktizierte: Während Moskaus Außenkommissar Maksim Litvinov im Zeichen "kollektiver Sicherheit" die nationalsozialistische Bedrohung durch eine enge Zusammenarbeit mit den Westmächten einzuhegen versuchte, ließen Stalin und dessen engster politischer Weggefährte Vjačeslav Molotov nichts unversucht, um das deutsch-sowjetische Verhältnis - und damit die Kooperation beider Diktatoren - substanziell zu verbessern. Dass dieses diplomatiegeschichtliche Kapitel bis heute nur sehr unzureichend erforscht geblieben ist, belegt die vorbildlich edierte Quellensammlung. Die beiden Herausgeber haben hierfür 691 sowjetische und deutsche Dokumente aus zwölf Archiven in Russland und Deutschland herangezogen, darunter Materialien aus dem Archiv des Föderalen Sicherheitsdienstes in Moskau, und diese sorgfältig kommentiert. Ihre Materialien gewähren tiefe Einblicke in die damaligen zeitgenössischen Herausforderungen der Diplomatie. Sie legen offen, welche Apparate und Akteure in den Außenressorts beider Länder die bilateralen Beziehungen gestalteten, wie deren Wahrnehmung und Kommunikation funktionierte und wie sie insgesamt auf das Geschehen Einfluss nahmen.
Im Wesentlichen lassen sich für die knapp zweieinhalb Jahre der hier dokumentierten deutsch-sowjetischen Beziehungen acht große Aktionsfelder identifizieren. Im Mittelpunkt standen für den gesamten Zeitraum zweifellos die Wirtschaftskontakte. Insbesondere Stalin knüpfte an die Bemühungen, den bilateralen Handel möglichst auszubauen, nicht nur die Hoffnung, militärisch und industrietechnisch hochwertige Produkte aus Deutschland zu beziehen. Er erblickte zugleich die Chance, mit Hilfe wichtiger sowjetischer Rohstofflieferungen an das NS-Regime, das nach Aufrüstung strebte, auf Dauer die politischen Beziehungen über alle ideologischen Gegensätze hinweg aufzuwerten. In diesem Zusammenhang kam der sogenannten Kandelaki-Mission besondere Bedeutung zu, wie die Edition eindrücklich belegt. Stalins persönlicher Emissär ließ zwischen Januar 1935 und April 1937 nichts unversucht, um über die Ökonomie das Tor für die politische Annäherung und Kooperation aufzustoßen. Erstmals sind in dem Quellenband sogar Anweisungen abgedruckt, die der Kremlchef eigenhändig redigierte, bevor sie über Außenkommissar Litvinov im Mai 1935 an David Kandelaki weitergeleitet wurden (Dok. 142).
Deutlich zeigen die Dokumente, wie Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan seit Oktober 1936 in engem Zusammenspiel mit Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht den sowjetischen Unterhändler in der Auffassung bestärkte, gegen erforderliche ökonomische Zusicherungen das bilaterale politische Verhältnis grundlegend bereinigen zu können (u. a. Dok. 458, 462). Höchst zuversichtlich meldete deshalb Kandelaki noch im Januar 1937 an Stalin, wie erfreut sich sein deutscher Gesprächspartner Schacht über die sowjetische Bereitschaft zum politischen Dialog gezeigt habe. Kandelakis Optimismus währte nicht lange. Am 16. März handelte er sich unmissverständlich eine deutsche Absage ein; damit war seine Mission endgültig Makulatur (Dok. 671). Über diese Tatsache hinaus wird aber auch deutlich, wie sehr die Sonderrolle des Stalin-Vertrauten in Berlin immer wieder Konflikte im sowjetischen Außenministerium provozierte. Denn Litvinov konnte und wollte es nicht zulassen, dass der formal zum Leiter der sowjetischen Handelsvertretung ernannte Unterhändler während dieser Zeit in der Botschaftshierarchie über Moskaus eigentlichem bevollmächtigten Vertreter in der Reichshauptstadt stand (Dok. 620, 622).
Auch die einst guten Militärbeziehungen, die Stalin 1933 kurz nach Hitlers Machtergreifung einseitig aufgekündigt hatte, sollten bis 1937 keine substanziellen Verbesserungen mehr erfahren. Daran änderte insgesamt wenig, dass deutsche wie sowjetische Militärs nach wie vor mit größter Hochachtung übereinander sprachen und um den generellen Wert der zurückliegenden geheimen Kooperation vergangener Jahre wussten. Es überrascht deshalb nur wenig, wenn die Aufgabe der Militärattachés in Moskau bzw. in Berlin vornehmlich darin bestand, als vorgeschobene Beobachterposten unter freilich schwierigen Bedingungen möglichst viel über den Grad an Rüstung und die Einsatzbereitschaft der gegnerischen Armee in Erfahrung zu bringen (Dok. 100, 105, 107-109, 240, 342, 563, 569).
Schließlich gewährt die Quellenedition erhellende Einblicke in interne Vorgänge, wobei sich sowjetische Diplomaten bis ins Frühjahr 1935 hinein vergeblich darum bemühten, das nationalsozialistische Aggressionspotenzial durch die Einbindung der Deutschen in ein multilaterales Ostpaktsystem abzufedern. Der anhaltende Niedergang einst florierender Wissenschafts- und Kulturbeziehungen wird ebenso dokumentiert wie die ideologiegeleiteten Aktivitäten von Komintern und Antikomintern, die seit Mitte der 1930er Jahre nachhaltig das gegenseitige Verhältnis verschlechterten. Das galt nicht minder für die Anfänge des spanischen Bürgerkrieges, der beide Länder an der südwestlichen Peripherie Europas in einen Stellvertreterkrieg verwickelte.
Selbst jenseits der skizzierten diplomatischen Schlüsselthemen bieten die in beiden Quellenbänden abgedruckten Anweisungen, Memoranden, Gesprächsaufzeichnungen und Lageanalysen zahlreiche Anregungen. Sie inspirieren geradewegs dazu, die damaligen deutsch-sowjetischen Beziehungen fortan auch unter verwaltungs-, organisations-, kultur- und alltagsgeschichtlichen Gesichtspunkten intensiver zu beleuchten. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass die Herausgeber, die mit Lothar Kölm einen gewandten Übersetzer gefunden haben, ihr wichtiges Editionsvorhaben weiterhin zielstrebig vorantreiben und in einem überschaubaren Zeitraum abschließen werden. Die auf Diplomatie-Geschichte und internationale Politik fokussierte Forschung wird von dem Projekt jedenfalls in vielfältiger Weise profitieren.
Stefan Creuzberger