Achatz von Müller / Pascal Griener / Livia Cárdenas u.a. (Hgg.): Keyßlers Welt. Europa auf Grand Tour, Göttingen: Wallstein 2018, 332 S., 21 Farb-, 41 s/w-Abb., ISBN 978-38353-3186-0, EUR 36,90
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Ein Sammelband stellt immer ein Dach dar, unter dem sich heterogene Beiträge unterschiedlicher Autoren eingefunden haben, welche von ihren jeweiligen Fachdisziplinen und Wissenschaftsrichtungen her zu einem gestellten Thema beizutragen suchen. Ob der Leser das Ergebnis überzeugend findet, hängt dann wiederum von seinem eigenen Interesse am Thema ab und davon, wie weit er geneigt ist, die manchmal etwas künstlich gesuchten Verbindungswege nachzugehen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen Sammelband, der eine Tagung auf Schloss Gartow an der Elbe, dem Sitz der Grafen von Bernstorff, dokumentiert. Der Zusammenhang zwischen Ort und Thema ließ sich über den frühaufklärerischen Reiseschriftsteller Johann Georg Keyßler (1693-1743) herstellen, welcher als Hofmeister zweier Grafen von Bernstorff fungierte (Enkel des in London residierenden Andreas Gottlieb von Bernstorff, der gewissermaßen Premierminister des Kurfürstentums Hannover war). Etwas vollmundig heißt es in der Einleitung: "Im Zuge dieser Aufgabe erhob Keyßler für die Zeitspanne einer Generation Schloss Gartow zu einem Zentrum intellektueller europäischer Korrespondenz, wissenschaftlicher Sammeltätigkeit und insbesondere von der Herberge einer klassischen Adelsbibliothek zum Hort einer Gelehrtenbibliothek von Rang." (12) Die Hauptbedeutung Keyßlers liegt aber ohne Zweifel in seinem Reisewerk "Neueste Reisen durch Deutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen", das in zwei Quartbänden zunächst 1740/41 erschien und erneut 1751 und 1776 mit Veränderungen gedruckt wurde, woraus seine Bedeutung und Wirkmächtigkeit schon erkennbar werden. "Der Keyßler" war eines der zentralen Reisewerke des mittleren 18. Jahrhunderts, das auch in andere Sprachen übersetzt wurde und seit langem schon als Fundgrube vor allem für alles die Italienreisen Betreffende erkannt wurde. Zumal Keyßler dezidiert die Auffassung vertrat, Kavaliersreisen sollten sich weniger auf Frankreich richten als vielmehr auf Italien. Keyßler verfasste also ein Reisewerk, das nicht nur als Zeugnis einer bestimmten Stufe der Entwicklung adliger Reisekultur aufschlussreich ist, sondern deren Weiterentwicklung und Veränderung maßgeblich beeinflusste. Winfried Siebers hat darüber an anderer Stelle das maßgebliche Werk vorgelegt. [1]
Der Sammelband enthält 18 Studien von Autorinnen und Autoren, die überwiegend der Kunstgeschichte zuzuordnen sind, teilweise auch der Literaturgeschichte oder der Kulturgeschichte, zwei Beiträge sind in englischer und 16 in deutscher Sprache. Es gibt Kapitel über biographische Bezüge (Hartwig Graf von Bernstorff über Keyßler und die Bernstorffs, Joachim Kesten über Klopstock und die Bernstorffs) und solche, welche sich mit anderen Reisen beschäftigen, die mit Keyßler eigentlich nichts zu tun haben (Livia Cárdenas über Nikolaus Muffel und Jakob Rabus, Christoph Jamme über Xavier de Maistre, Hermann Mildenberger über Charles Gore und Cecilia Griener-Hurley über Maximilien de Meuron). Der Kern des Bandes liegt aber in einer Gruppe von Beiträgen, welche von kulturgeschichtlicher, kunstgeschichtlicher oder literaturgeschichtlicher Seite die europäische Reisekultur des Aufklärungszeitalters in den Blick nehmen, die uns in Keyßlers Werk so musterhaft entgegentritt, und damit natürlich vor allem die Reisen nach Italien, denen sich der Reisehofmeister schwerpunktmäßig gewidmet hat.
Dabei geht es immer wieder darum, was eigentlich ein Reisebericht ist und was dieser in Keyßlers Epoche vermochte. Eindringliche Formulierungen dazu hat vor allem Achatz von Müller gefunden: Reiseliteratur "bestand und besteht aus literarischer Inszenierung durch Topik und Bedeutungsgestik - Stil, Metaphern, Figuren - und zugleich aus Beobachtetem, Erlebtem, Wahrgenommenem. Sie ist also ein Konstrukt aus literarischer Inszenierung und Wirklichkeitsbezügen" (10). Verschiedentlich wird darauf aufmerksam gemacht, dass Keyßlers Werk (trotz aller Welthaltigkeit und Authentizität) ein Buch aus Büchern ist, so etwa von Lucas Burkart (176). Der Reiseführer ist insofern ein Beitrag zur gelehrten Literatur, freilich mit dem Aufklärungsanspruch, das Beschriebene müsse auch selber gesehen worden sein (Autopsie). Inwiefern aber in der Frühen Neuzeit Museen, Kirchen, Schlösser, Kunstwerke überhaupt zugänglich waren, wird verschiedentlich thematisiert (Wolfgang Kemp, Lucas Burkart).
In den kunstgeschichtlichen Beiträgen werden teilweise auch Seitenwege beschritten (Maike Christadler über Darstellungen des Ateliers von Künstlerinnen, Christian Hecht über Michelangelos 'Jüngstes Gericht', zu dem auch Keyßler eine unmaßgebliche Meinung abgegeben hat, Miriam Volmert über Karikaturen). Es gibt aber auch Beiträge, in denen gerade aus der Verbindung von kulturellem Erbe und dessen Aufnahme in Keyßlers Reisewerk Funken geschlagen werden. Das Glanzstück bildet eine tiefdringende Studie von Bettina Rommel und Gregor Vogt-Spira, in welcher zunächst die Bedeutung Vergils für verschiedene Zeitalter, dann die literarische und künstlerische Präsentation seines (angeblichen) Grabmals bei Neapel, schließlich das komplexe Interaktionsverhältnis von künstlerischer Repräsentation und kultureller Identitätsrelevanz im Spiegel der Reiseliteratur dargestellt werden. Aufschlussreich sind auch Versuche von Kunsthistorikern, die natürlich ihren Kanon im Kopf haben, einen nicht eigentlich auf Kunstwerke spezialisierten Autor wie Keyßler in seiner Übergangsstellung zwischen barocker Kuriositätenjägerei und winckelmannscher Antikenehrfurcht zu verorten (Lucas Burkart, Bernd Wolfgang Lindemann).
Weniger eindringend sind die Versuche, die Textmasse des barock-frühaufklärerischen Autors in Bezug auf ihre Textqualitäten zu erfassen. Hierher gehören Bemerkungen von Christian Hecht zur Ironie bei Keyßler (153, 162) sowie ein Aufsatz von Ulrike Steierwald, den sie unter den Titel "Bewegte Betrachtung" gestellt hat (229-254). Winckelmann übrigens hat Keyßler jede literarische Bedeutung abgesprochen (251). Das spricht freilich dafür, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine neue Epoche anbrach, welche nicht zuletzt auch durch eine sich radikalisierende Subjektivität gekennzeichnet ist, welche die Gattung des Reiseberichts grundlegend revolutioniert hat.
Es gibt einen wichtigen Aspekt, der an einzelnen Stellen (etwa bei Christian Hecht, vor allem aber bei Hartwig Graf von Bernstorff, 256-260) anklingt, der aber nicht eigentlich zum Gegenstand der Tagung geworden ist: Konfession. Zur Zeit Keyßlers erfolgten europäische Reisen nicht zuletzt unter dem Wahrnehmungsmuster des Konfessionellen. Wenn ein Protestant wie Keyßler zu Reisen in das katholische Italien aufrief, beinhaltete das immer auch eine Kommentierung konfessionskultureller Lebensweise und katholisch geprägter Kunst und Wissenschaft. Auch Keyßler gehörte (wie viele andere englische und deutsche Autoren) zu denjenigen, welche im Rahmen der von ihnen angeleiteten Reisekultur zur Errichtung einer protestantischen Kulturhegemonie in Europa beitrugen. [2]
Anmerkungen:
[1] Winfried Siebers: Johann Georg Keyßler und die Reisebeschreibung der Frühaufklärung, Würzburg 2009.
[2] Vgl. Michael Maurer: Protestanten auf der Grand Tour in Italien, in: Uwe Israel / Michael Matheus (Hgg.): Protestanten zwischen Venedig und Rom in der Frühen Neuzeit, Berlin 2013, 251-268.
Michael Maurer