Denise Schlichting: Austausch und Aufklärung. Justus Möser in Netzwerken der Text- und Buchproduktion zwischen 1760 und 1800, Hannover: Wehrhahn Verlag 2024, 476 S., ISBN 978-3-98859-038-1, EUR 38,00
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Dass Justus Möser zu den zentralen Figuren der deutschsprachigen Aufklärung gehört, ist in der Forschung längst kein Geheimnis mehr. Zu dem lange Zeit nur wenig beforschten Osnabrücker Publizisten, Historiker, Juristen und Staatsmann sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien erschienen, darunter eine religionswissenschaftliche Monografie von Albrecht Beutel, ein von Ulrich Winzer und Susanne Tauss herausgegebener Sammelband und eine von Holger Böning verfasste Biografie, die Möser als "Anwalt der praktischen Vernunft" - so der Titel - ausweist. [1] Befördert wurde die wissenschaftliche Neubewertung Mösers und seines Schaffens insbesondere durch mehrere Forschungsprojekte an der Universität Osnabrück, an der auch die in vielerlei Hinsicht überzeugende und neue Perspektiven eröffnende Dissertation von Denise Schlichting entstanden ist.
Unter dem Titel "Austausch und Aufklärung" verortet Schlichting Möser erstmals umfassend in "Netzwerken der Text- und Buchproduktion zwischen 1760 und 1800". Mit ihrer an aktuellen Ansätzen und Methoden der literaturwissenschaftlichen Netzwerkforschung orientierten Monografie betritt Schlichting in weiten Teilen Neuland. Studien, die die Schreibprozesse, Schreibpraktiken und die kooperierende Literaturproduktion Mösers, der im Gegensatz zu Zeitgenossen wie Lessing oder Goethe kein "epochemachendes Werk" (26) hinterlassen hat, in den Blick nehmen, liegen, wie Schlichting zurecht vermerkt, bislang nicht vor (40). In ihrer Untersuchung rücken Mösers Inszenierungen und Positionierungen als Schriftsteller und sein "kommunikativer Austausch" (ebd.) ebenso ins Blickfeld wie die Schreib- und Entstehungsprozesse seiner Texte. Ein besonderes Augenmerk liegt auf Mösers Einbindung in heterogene literarische Netzwerke und deren Rekonstruktion.
Dass sich im Zuge der Lektüre die Konturen von Mösers Rolle und Position in "komplexen Publikationsprozessen", in die nicht nur Schriftsteller, sondern ebenso "Verleger, Herausgeber, Setzer, Buchdrucker, Korrektoren [...] Kritiker" (11) und Korrespondenzpartner (v. a. 99-117) involviert waren, deutlich und nachhaltig schärfen, liegt nicht zuletzt an dem guten und klaren Aufbau von Schlichtings Buch. In drei größeren, von einer 70 Seiten starken Einführung und knappen Schlussbemerkungen flankierten Kapiteln werden unter den Haupttiteln "Schreibprozesse", "Kritische Textproduktion" und "Publizistische Kooperationen" die zahlreichen Facetten von Mösers Wirken als Briefschreiber, Kritiker, Herausgeber oder Broker anhand unterschiedlicher Quellen und Textkorpora thematisiert. Der Begriff des 'literarischen Brokers' geht auf Hannes Fischer zurück. Dessen Ausführungen bilden neben den einschlägigen und in der literaturwissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahren stark rezipierten Arbeiten von Steffen Martus, Erika Thomalla, Carlos Spoerhase und Lore Knapp den methodischen Rahmen und theoretischen Orientierungspunkt von Schlichtings Analysen. Die in der Einleitung angesiedelten Ausführungen zu literatur- und kulturwissenschaftlichen Netzwerktheorien bieten einen gelungenen und plausiblen Einstieg in die methodische Herangehensweise. Allerdings hätte man sich an der einen oder anderen Stelle eine stärkere Akzentuierung des eigenen Verständnisses und damit verbunden eine nähere Definition des Begriffes "Netzwerk" gewünscht, so wie das Schlichting in überzeugender Form für den kulturhistorisch determinierten Begriff "Austausch" tut (15-17). Zuweilen wird der Blick auf Schlichtings fundierte Gedanken und anregende Ideen zu Möser durch die enge Fokussierung auf aktuelle literarische Netzwerktheorien sowie durch die häufigen wörtlichen Zitationen von Forschungsliteratur ein wenig verstellt. Hinsichtlich des Themas Netzwerk- und Gruppenbildung, Beziehungspflege und kollaborative Autorschaft wären zudem Personen-, Orts- und Werkregister hilfreich und ratsam gewesen.
Gleichwohl bieten die in gut lesbarer Wissenschaftsprosa verfassten und durch sorgfältige und quellenkritische Lektüren bestechenden Analysen viele neue Einblicke. Überaus gelungen sind unter anderem Kapitel zu Mösers Korrespondenzen mit Abbt, Benzler und Nicolai (u. a. 99-116), zu Schreiborten (117-133) oder das Kapitel zu Mösers Schreibkrisen und deren Verortung in der zeitgenössischen Hypochondrie-Debatte (144-167). "[P]hysisch bedingte[] Schreibkrise[n]" (146), wie sie Möser häufiger erfahren haben muss, und damit einhergehend die Störung und der Abbruch von Kommunikation erscheinen als ein zentrales Thema in seinen Korrespondenzen. Zugleich kann Schlichting zeigen, dass die Hypochondrie auch "kontaktfördernde Eigenschaften" (152) besaß, etwa dann wenn Möser andere betroffene Gelehrte oder Freunde um "Hilfe und präventive Maßnahmen" (ebd.) bat oder wenn sich die Auseinandersetzung mit der Hypochondrie in einer direkten Reflexion in dem von ihm herausgegebenen "Intelligenz-Blättern" niederschlug.
Interessante Perspektiven eröffnen ebenfalls die Ausführungen zu Mösers Funktion und Position in literarischen Fehden seiner Zeit. Im Feld der Kritik war der Osnabrücker Gelehrte aufgrund der räumlichen Distanz zu Berlin oder Leipzig deutlich weniger anzutreffen als seine Kollegen Lessing oder Friedrich Nicolai. Letzterer hatte ihn wiederholt um Mitarbeit an der "Allgemeinen Deutschen Bibliothek" gebeten und Möser nachhaltig in seine verlegerischen und buchillustratorischen Netzwerke (vgl. 353-386) eingebunden. Mit Nicolai verband Möser zudem seine negative Bewertung des "Werther" bzw. der populären Identifikation mit dessen Schicksal (254-266). Aufklärer wie Nicolai, Sulzer, Bodmer - der mit Möser über mittelalterliche Handschriften und philologische Fragen im Austausch stand -, Haller oder Gellert hatten unter dem wirkungsmächtigen Erscheinen einer progressiv und aggressiv agierenden Dichtergeneration um Goethe, Herder oder Merck zu leiden, was der "nicht direkt an den Konflikten beteiligte" Möser durchaus wahrnahm (277). Eine Versicherung gemeinsamer Positionen etwa in Briefen und gemeinschaftsstiftende Publikationsprojekte und Kooperationen erwiesen sich demnach als umso wichtiger. Darauf weisen etwa die von Schlichting bestens erörterten Inszenierungen fiktiver Kontroversen in Mösers "Patriotischen Phantasien" hin (300-323).
Während die Briefe, Buchprojekte und Kritiken Mösers und Anderer als eine Art gemeinschaftsstiftender Ort gegenüber einer jüngeren Generation an Publizisten erscheinen, gibt es genügend Beispiele dafür, dass die erbrachte Generationsleistung der Aufklärer ebenso lebendig gehalten und gepflegt wurde. Darauf weisen etwa die Aktivitäten und Unternehmungen von Mösers Tochter, Jenny von Voigt, hin, die nicht nur das Nachleben ihres Vaters, sondern auch dessen Netzwerke und Produktionsprozesse weiterpflegte (u. a. 390-397). Dass Schlichting Mösers Tochter und deren publizistischer und herausgeberischer Tätigkeit breite Aufmerksamkeit schenkt, ist eine weitere Stärke der Arbeit, die man mit Nachdruck nicht nur einem literaturwissenschaftlich interessierten Publikum zur Lektüre empfehlen kann.
Anmerkung:
[1] Albrecht Beutel: Der "fromme Laie" Justus Möser. Funktionale Religionstheorie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 2020; Susanne Tauss / Ulrich Winzer (Hgg.): "Es hat also jede Sache ihren Gesichtspunct ...": neue Blicke auf Justus Möser (1720-1794), Münster 2020; Holger Böning: Justus Möser: Anwalt der praktischen Vernunft: der Aufklärer, Publizist und Intelligenzblattherausgeber. Zugleich ein Lesebuch zum Intelligenzwesen, zu Aufklärung, Volksaufklärung und Volkstäuschung mit Texten von Justus Möser sowie von Thomas Abbt, Johann Wolfgang Goethe, Johann Gottfried Herder, Georg Christoph Lichtenberg und Jean Paul, Bremen 2017.
Jana Kittelmann