Lothar Graf zu Dohna / Richard Wetzel: Staupitz, theologischer Lehrer Luthers. Neue Quellen - bleibende Erkenntnisse (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 105), Tübingen: Mohr Siebeck 2018, XII + 392 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-16-156125-2, EUR 104,00
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Anders als der auf die aktuelle Diskussion um die Luther-Deutung abzielende Titel vermuten lässt, handelt das Buch nicht nur von einer, sondern von zwei Personen, nämlich zunächst und vor allem von dem wenig bekannten, aus Abensberg bei Kelheim stammenden und zuletzt in Eisleben wirkenden Reformator Stephan Kastenbauer (gestorben 1547 [18; RGG4: 1545]) oder, mit seinem Humanistennamen, Agricola, nicht zu verwechseln mit dem aus Eisleben stammenden Reformator Johann Agricola (gestorben 1566). Der Augustinermönch Stephan Agricola war als Reformationsanhänger in Rattenberg am Inn aktiv, wurde 1522 festgenommen und war 1523/24 im zum Fürstbistum Salzburg gehörenden Mühldorf am Inn inhaftiert, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Lothar Graf zu Dohna (geb. 1924), zuletzt Professor für Mittelalterliche Geschichte an der TU Darmstadt, und Richard Wetzel (geb. 1936), zuletzt Mitarbeiter der Melanchthon-Forschungsstelle Heidelberg, edieren erstmals die Akten dieses "Ketzer"-Prozesses und geben damit einen so nur selten möglichen, detaillierten Einblick in den Ablauf eines solchen Verfahrens. Das ist der eigentliche neue Beitrag zur Forschung, den das Buch leistet und im Untertitel ("Neue Quellen") ankündigt.
Die interessanten Prozessakten waren zwar schon lange bekannt, doch seit 1896 waren sie verschollen und wurden von Lothar Graf zu Dohna erst vor zwanzig Jahren im Salzburger Konsistorialarchiv wieder entdeckt. Der Prozess endete übrigens mit der vom Rat des Fürstbischofs am 19.2.1524 beschlossenen Freilassung ("Ine daussen zu lassen." 109,88) Agricolas.
An diesem Prozess beteiligt war Johannes von Staupitz (ca. 1468-1524), der geistliche Mentor Luthers, der im Frühjahr 1523 ein Gutachten - "das bedeutsamste Dokument dieses Quellenbestandes" (29) - beisteuerte, das allerdings - anders als die übrigen Prozessakten - nicht zum ersten Mal ediert wird. Mit diesem Prozess und im Zusammenhang mit der Aktenedition stand die alte Frage neu im Raum, wie das Verhältnis Staupitz' zu Luther und zur Reformation nach Staupitz' Übersiedlung nach Salzburg (1520) zu bewerten und wie überhaupt die persönlichen und theologischen Beziehungen zwischen den beiden zu sehen sind. Den beiden Autoren gelingt es anhand der Prozessakten überzeugend darzustellen, dass Staupitz, der auch dem fürstbischöflichen Rat angehörte, nach seiner Übersiedlung nach Salzburg nicht zum Gegner Luthers und der Reformation geworden war und erst Recht nicht zu einem antireformatorischen Ketzerjäger, als der er in der älteren Literatur verschiedentlich dargestellt worden war. Am Freilassungsbeschluss war Staupitz allerdings nicht direkt beteiligt, da er bei der Sitzung nach Aktenlage nicht anwesend war.
Ihre Prozessaktenedition nehmen die beiden Editoren zum Anlass, im zweiten Teil des Bandes "Studien" zu Staupitz und zu Luthers Verhältnis zu Staupitz zu veröffentlichen, die überwiegend, meist in den 80er-Jahren schon einmal publiziert worden waren und schon damals die enge und bleibende Verbindung der beiden Männer betonten. Staupitz war, wie der Buchtitel pointiert formuliert, nicht nur geistlicher Mentor, sondern "theologischer Lehrer" Luthers. Aber Staupitz war auch, wie die beiden Autoren herausarbeiten, ein "kritischer 'Schüler' Luthers" (131).
Die Frage nach dem Verhältnis Luthers zu Staupitz war in den letzten Jahren neu aufgeworfen worden, vor allem durch die Luther-Biografien des Tübinger Kirchenhistorikers Volker Leppin (geboren 1966), der die Abhängigkeit Luthers von Staupitz sehr betonte und Luther damit in den Horizont des Spätmittelalters und des Reformkatholizismus rückte, was freilich nicht unwidersprochen blieb. Leppin ist auch Herausgeber der Reihe, in der der Staupitz-Band, der letztlich seine Position stützt, erschienen ist. Während der Band die Forschungsergebnisse Leppins vielfach ausdrücklich bekräftigt, distanziert er sich an vielen Punkten von Positionen des Frankfurter Kirchenhistorikers Markus Wriedt (geboren 1958), der sich in den vergangenen Jahren ebenfalls Staupitz zugewandt hatte.
Die noch einmal publizierten Studien sind alt, aber nicht veraltet. Die beiden Verfasser publizieren sie in bearbeiteter Form, wobei sie auf vorgenommene Aktualisierungen jeweils ausdrücklich durch Kürzel hinweisen. Zu den neu veröffentlichten Arbeiten gehört ein detaillierter Überblick über die neuere Staupitz-Forschung.
Vorbildlich gerade auch in "handwerklicher" Hinsicht ist die ganze Gestaltung des Bandes, auch die Ausstattung mit Registern. Verzeichnet werden nicht nur Orte, Sachbetreffe und historische Personen, sondern in einem weiteren Register auch alle übrigen Personen, die Erwähnung finden. Bei historischen Personen werden die jeweils erwähnten oder zitierten Schriften mit erfasst, sodass eine sehr gezielte Verwertung des Bandes möglich ist. Ferner wurde auch an ein Register der Bibelstellen gedacht.
Die beiden Editoren und Autoren waren in den 70er-Jahren als Wissenschaftler in Tübingen tätig, wo als Kirchenhistoriker und Vor-Vorgänger Leppins Heiko A. Oberman (1930-2001) wirkte, der damals ebenfalls Luther mit dem Spätmittelalter verknüpfte und zahlreiche Forschungen und Editionen, unter anderem eine auf sieben Bände angelegte Staupitz-Edition, anstieß, von der aber nur drei Bände erschienen sind. Das nunmehr von Lothar Graf zu Dohna und Richard Wetzel publizierte Buch ist somit eine späte, reife Frucht von Obermans Wirken in Tübingen, eine Frucht von 1-A-Qualität hinsichtlich Ertrag, Sorgfalt und Präzision. Zu Recht betonen die beiden Autoren auf der Basis ihrer fundierten Arbeiten die "Breite der Reformation" und sehen in ihr eine Bewegung, "die nicht nur auf Luther zurückgeht" (17). Die Salzburger Akten offenbaren, wie sie ebenfalls herausstellen, die Nähe "reformakatholische[n] Denken[s]" zur reformatorischen Theologie (17) und damit, so fügt der Rezensent hinzu, auch 1524 noch gegebene, später leider verspielte Chancen, das Auseinanderbrechen der Kirche zu verhindern.
Martin H. Jung