Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München: C.H.Beck 2019, 512 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-73308-6, EUR 28,00
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Frank Bösch / Norbert Frei (Hgg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2006
Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler (Hgg.): Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018
Frank Bösch / Jürgen Danyel (Hgg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012
Auch wenn in der letzten Zeit eine ganze Reihe historischer Studien zu einzelnen Jahren erschienen ist, stellt Frank Böschs Buch über die "Zeitenwende 1979" ein Experiment dar. Denn dass es sich bei diesem historiographischen Zugang um eine stark konventionalisierte Untersuchungs- und Erzählform handele, lässt sich schwerlich behaupten. Bösch beschreibt das Jahr 1979 als einen verdichteten Moment des Wandels, der auf verschiedenen Feldern und sowohl global als auch national - in der Bundesrepublik und in der DDR - zukunftsträchtige Entwicklungen auf den Weg brachte. Dieser leitende Gedanke wird in zehn gut gewählten analytischen Schnitten entfaltet. Deren thematischer Bogen reicht vom sowjetischen Einmarsch in Afghanistan über die zweite Ölkrise und den Unfall im Atomkraftwerk von Harrisburg bis hin zur Ausstrahlung der Fernsehserie "Holocaust". Somit stellt jedes Kapitel einen Ereigniskomplex ins Zentrum, der dann auf seine strukturelle Veränderungskraft befragt wird. Zum Teil beruhen diese Analysen auf einer Synthese der Forschungsliteratur, doch gerade für die deutsche Geschichte erschließt der Autor auch substanzielles Neuland.
Wer in der Darstellung dieser historischen Geschehensfülle nach flächendeckenden, überwölbenden Erklärungen für die Wandlungsdynamik der letzten vier Jahrzehnte sucht, wird eher nicht fündig. Das liegt zum einen an der Logik des Nebeneinanders, die der synchrone Ansatz mit sich bringt. Dass etwa die politische Mobilisierungswirkung der Religion in Polen, dem Iran und Nicaragua und damit in denkbar unterschiedlichen historischen Kontexten nahezu gleichzeitig sprunghaft zunahm, wie Bösch eindrucksvoll vor Augen führt, dürfte eher auf eine Koinzidenz als auf gemeinsame Ursachen zurückzuführen sein. Zum anderen, und vielleicht noch wesentlicher, bleibt undeutlich, worin die "Welt von heute", deren Ursprünge das Buch im Anschluss an eine in der Zeitgeschichte inzwischen gut etablierte Betrachtungsweise zutage fördern möchte, eigentlich besteht. Der Autor bedient sich schillernder oder doch zumindest sehr dehnbarer Zuschreibungen wie Neoliberalismus, Globalisierung, islamistischer Terror oder Umweltbewusstsein. Dass sie unsere (zeitlich nicht näher bestimmte) Gegenwart charakterisieren, setzt das Buch als evident voraus, obwohl es zeithistorisch doch genau dies erst zu untersuchen gälte. Dabei verlängern sich mitunter auch zeitgenössische Selbstdeutungen in die historische Analyse. So begreift Bösch die späten siebziger Jahre als den Durchbruch einer "multipolaren" internationalen Ordnung. Eben diese Perzeption war in der damaligen Debatte ausgesprochen einflussreich, während die jüngste geschichtswissenschaftliche Forschung die Welt des "Kalten Kriegs" mit guten Gründen als von Anfang an multipolar beschrieben hat. In jedem Fall stellen die Kapitel zwar die Vorbedingungen und Vorläufe der transformativen Ereignisse von 1979 ausführlich dar, überbrücken die Jahrzehnte seitdem aber lediglich mit wenigen Sätzen. Die entwicklungsgeschichtlichen Verbindungen zwischen damals und heute bilden so eine auffällige argumentative Leerstelle.
In anderen Bereichen erweist sich die Perspektive des Buches dagegen als ausgesprochen aufschlussreich. So entwirft es ein ebenso dichtes wie facettenreiches Panorama wichtiger politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse, welche die Zeit um 1979 - der Kernzeitraum der Analyse umfasst die späten siebziger und frühen achtziger Jahre - materiell wie auch wahrnehmungsgeschichtlich prägten. Dieses Panorama ist umso aussagekräftiger, als Bösch den synchronen Verschränkungen und wechselseitigen Bezügen zwischen den verschiedenen Ereigniszusammenhängen (anders als möglichen zugrunde liegenden Kausalitäten) durchweg nachspürt. So legt er etwa dar, dass sowohl die iranische Revolution und die von ihr mit verursachte zweite Ölkrise als auch die sowjetische Invasion Afghanistans Tendenzen Vorschub leisteten, welche die Logik des "Kalten Kriegs" durchbrachen. Ebenso schildert er, wie die nicaraguanischen Sandinisten den Umsturz im Iran oder die chinesische Führung das gesellschaftliche Aufbegehren in Polen beobachteten, und stellt Parallelen zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten des politischen Wandels her, von Thatcher und Kohl über Khomeini und Papst Johannes Paul II. bis zu Deng Xiaoping.
Die größte Stärke der Untersuchung schließlich liegt wohl in dem neuen Bild, das der Autor von der deutschen Geschichte zeichnet. Die Bundesrepublik (wie auch die DDR, die im Buch allerdings einen geringeren Stellenwert einnimmt) beleuchtet er konsequent in ihren transnationalen Verflechtungen. Dadurch kommen wirkmächtige politische Motivlagen, gesellschaftliche Haltungen und kulturelle Perzeptionsweisen zum Vorschein, von denen die vorliegenden Gesamtdarstellungen in der Regel nicht einmal eine Ahnung vermitteln. So vermag Bösch zu zeigen, dass die Flucht der vietnamesischen "Boat People" in der westdeutschen Gesellschaft eine bemerkenswerte Hilfswelle auslöste - aber auch rechtsradikale Gewalt beförderte. Desgleichen konturiert er die Bedeutung, welche die Solidarität mit Nicaragua (deren Neuartigkeit er etwas überakzentuiert) für die Selbstverständigung des linksalternativen Milieus gewann. Nicht zuletzt macht seine Studie deutlich, wie sehr die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen immer wieder das treibende Motiv hinter der Art bildete, wie sich die Bundesrepublik in der Welt positionierte, ob es nun um die Beziehungen zum Iran, zu China oder zu Nicaragua ging.
Von diesen Seiten aus betrachtet, erscheint das Buch stimulierend, und das Experiment zu großen Teilen gelungen. Somit erweist sich die Jahresperspektive auch als mehr denn ein narrativer Kniff, der es erlaubt, scheinbar Disparates zusammenzudenken. Ein solcher Kniff ist sie auch, und nichts spricht gegen dieses Verfahren. Doch werden die Jahre um 1979 darüber hinaus zu einem analytischen Fokus, der hilft, räumlich weitgespannte Knotenpunkte der historischen Entwicklung freizulegen.
Jan Eckel