Rezension über:

Poul Villaume / Rasmus Mariager / Helle Porsdam (eds.): The "Long 1970s". Human Rights, East-West Détente and Transnational Relations, London / New York: Routledge 2016, XVII + 313 S., ISBN 978-1-4724-5940-4, GBP 95,00
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Rezension von:
Jost Dülffer
Köln
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Empfohlene Zitierweise:
Jost Dülffer: Rezension von: Poul Villaume / Rasmus Mariager / Helle Porsdam (eds.): The "Long 1970s". Human Rights, East-West Détente and Transnational Relations, London / New York: Routledge 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 1 [15.01.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/01/29402.html


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Poul Villaume / Rasmus Mariager / Helle Porsdam (eds.): The "Long 1970s"

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Lange und kurze Jahrhunderte, nun auch Jahrzehnte auszurufen, richtet sich immer berechtigt gegen die nur scheinbar bedeutsamen numerischen Einschnitte, kann aber auch die Setzung neuer inhaltlicher Zäsuren bedeuten; dann wird es spannend und oft auch ertragreich. Beim vorliegenden Band handelt es sich jedoch nur um Ergebnisse eines dänischen Forschungsprojekts, dessen Schwerpunkt auf den langen Siebzigern liegt, das aber häufig in die Sechziger zurückgreift und bisweilen bis 1991 reicht. Die vierzehn Beiträge sind das Ergebnis einer längeren Kooperation, die mit einer Konferenz im November 2012 abschloss; die Aufsätze sind also erst vier Jahre später gedruckt erschienen.

Die Herausgeber bündeln sie nach den im Titel genannten drei Themenkomplexen Menschenrechte, Ost-West-Detente und transnationalen Beziehungen, was einen vagen Überblick über recht disparate, aber häufig innovative und eigentlich immer gut aus Quellen, besonders natürlich skandinavischer Provenienz, gearbeitete Aufsätze gibt. Im einzelnen liefert Mark Bradley einen brillanten Einstieg in eine multiperspektivische Sicht der globaler werdenden Welt und betont gerade den außereuropäischen Anteil der Menschenrechtsdebatten, die sich u.a. auf eine "redefinition of the self" an vielen einzelnen Orten richtete. In diesem Rahmen arbeitet Steven Jensen den Einfluss der UN-Menschenrechtsdebatten auf die KSZE-Entwicklung in Europa diplomatiegeschichtlich heraus - sein einschlägiges Buch erschien 2016. [1] Die nachfolgenden drei Menschenrechtsstudien gehen von nicht-staatlichen Akteuren aus: Gerade in Skandinavien stellte man sich gegen die griechische Junta (1967-1974) und trug so zum zeitweiligen Austritt des Landes aus dem Europarat bei (Kjaersgaard). Robert Brier macht deutlich, dass besonders die westeuropäische Linke, voran Willy Brandt, einige Schwierigkeiten hatte, mit dem Helsinki-Effekt in osteuropäischen Ländern umzugehen, drohte doch durch entstehende Bürgerbewegungen eine unerwünschte Destabilisierung der dortigen Regierungen. Diesen Gedanken greift Czaba Békés in später zu nennendem Zusammenhang auf, wenn er - wohl überspitzt und ohne gute Quellen - die ostmitteleuropäischen Staaten als zeitweilige Opfer der Entspannung nach dem Mauerfall bezeichnet: Man habe 1989-1991 die Sowjetunion nicht destabilisieren wollen. Eher ein Research Assignment liefert Helle Porsdam, wenn sie die digitale Revolution, ihre Folgen für die Menschenrechtsdebatten und erste internationale Kodifizierungen anspricht.

In einem Détente-Kapitel lässt sich so ziemlich alles thematisieren, was nicht auf direkte Konfrontation zielt. Mehrere Beiträge zeichnen die frühen Entspannungsbemühungen zumal aus Skandinavien nach, die Voraussetzungen für die KSZE und ihrer Schlusskonferenz gewesen seien: Dann geht es um dänisch-polnischen Jugendaustausch (Rostgaard), um Dänemarks Bemühungen in der NATO in Richtung auf eine Sicherheitskonferenz (Villaume), um die sozialistischen Parteien in Skandinavien und deren kontrovers werdende Sicherheitsdebatten, gerade angesichts der SPD-Politik in Deutschland und der Aktivitäten Willy Brandts und Olof Palmes (Mariager). Der bereits genannte Békés gibt einen Gesamtüberblick über den Ostblock bis 1991, der recht grob ausfallen muss, so dass er angesichts zahlreicher anderer eigener Veröffentlichungen zum Thema auch seine weiteren steilen, aber anregenden Thesen nicht so recht expliziert. Dass es keinen zweiten Kalten Krieg um 1980 gegeben habe, ist eine Sicht, die er mit Villaume teilt; jedoch vernachlässigt dieser polemisch entfaltete Blickwinkel stark die weitverbreiteten Ängste der Zeitgenossen und nimmt die Kriegsdrohungen nach dem NATO-Doppelbeschluss 1979 nicht recht wahr. Spannender ist seine Behauptung, nicht Korb 3 - also Menschenrechte - seien in den achtziger Jahren für den Zusammenbruch des Ostblocks wichtig gewesen, sondern Korb 2, die wirtschaftliche Kooperation. Zugleich betont Békés, Westdeutschlands wirtschaftliche Kooperation mit dem Sowjetblock habe mehr zu dessen Niedergang beigetragen als bisher erarbeitet. Aber die westdeutsche Wirtschaft bedurfte wohl kaum des Korbs 2, um ihre Ostkontakte auszubauen; das Gegenteil zeigt zumindest Békés nicht. Gern nimmt man weiters auf, dass Ungarn wichtiger war als bisher gedacht.

Vor allem methodisch innovativ stellen sich einige Beiträge im dritten Teil dar. Detlef Siegfried unternimmt es gekonnt, das alternative Milieu zu umreißen, das in den hier behandelten Formen lokal gebunden war (z.B. Christiania in Kopenhagen, aber auch Amsterdam), aber ein alternatives Selbst entwickelte, das auch zunehmend als transnationales Phänomen wahrgenommen und akzeptiert worden sei (da hätte man gern gewusst, wie sich das zu Bradleys eingangs genannten Eindrücken verhielt). Auf ähnlicher transnationaler Ebene der Vernetzung, aber mit nationaler Verankerung bildete sich ein Netzwerk der verteidigungsfreundlichen privaten Organisationen ab, die gegen einen eher pazifistischen Zeitgeist eintraten. Was Giles Scott-Smith dazu schreibt, ist alles neu und verdient weitere Beachtung. Freilich sollte deutlich werden, wie privat oder doch verdeckt öffentlich finanziert dieses Netzwerk tatsächlich war. Was Dino Knudsens Beitrag in dem Band zu suchen hat, ist weniger deutlich: bei der Trilateralen Kommission von USA, Westeuropa und Japan handelte es sich um ein informelles Gremium höchster Honoratioren, die unter David Rockefeller einen fast schon offiziösen Besuch in Beijing 1981 absolvierten. Auch bei diesem spannenden Thema stellt sich die Frage nach Vernetzung mit offizieller westlicher Politik. Ein Überblick über die skandinavische Vietnam-Fernseh-Berichterstattung bis 1975 hebt deren kritische Haltung zum US-Vietnamkrieg hervor im Einklang mit Regierungspolitik und Öffentlichkeit. Rosslying-Jensen liefert dazu zahlreiche Umfragedaten, nennt Fernsehsendungen und betont den Austausch von Filmmaterial auf der skandinavischen Schiene; methodisch bleibt das recht additiv, aber thematisch interessant. Den Schluss macht Karl Christian Lammers mit einem Überblick, wie die skandinavischen Staaten die bundesdeutsche Ostpolitik beobachteten; sie blieben gegenüber der DDR ambivalent, stützten sich jedoch zunehmend auf bilaterale Freundschaftsgesellschaften.

Was bleibt von einem solchen Band? Einige auch methodisch innovative Aufsätze, viele neue Quellenstudien, recht disparate Themen, die Thematisierung Dänemarks und anderer skandinavischer Staaten in sonst nicht üblicher Weise: also eine ambivalente Bilanz und ein Ausweis des internationalen wissenschaftlichen Austausch- und Produktionssystems, das sich durch die jüngste Zeitgeschichte hindurchpflügt. Einen Vorgängerband ähnlichen Zeitraums hatte es schon 2010 gegeben [2]; hier liegt eine sinnvolle Ergänzung dazu vor.


Anmerkungen:

[1] Steven Jensen: The Making of International Human Rights: The 1960s, Decolonization and the Reconstruction of Global Values, Cambridge 2016.

[2] Poul Villaume / Odd Arne Westad (eds.): Perforating the Iron Curtain. European Détente, Transatlantic Relations, and the Cold War 1965-1985, Kopenhagen 2010; vgl. meine Rezension in HZ 293 (2011), 581. Siehe auch: http://www.sehepunkte.de/2013/10/20122.html

Jost Dülffer