Kia Vahland: Leonardo da Vinci und die Frauen. Eine Künstlerbiographie, Frankfurt/M. / Leipzig: Insel Verlag 2019, 347 S., 34 Farb-, 42 s/w-Abb., ISBN 978-3-458-17787-6, EUR 26,00
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Wohl kaum ein Künstlerjubiläum ist in letzter Zeit so aufwändig begangen worden wie der 500. Todestag Leonardo da Vincis, des Erfinders des Hochrenaissancestils, der klare Linien und Flächen durch sein Sfumato überwand. Ausstellungen in der Hamburger Kunsthalle, im Museum der Universität Tübingen, in Madrid, in den Vatikanischen Museen, in Florenz, Mailand, Parma, Turin, in der Villa Farnesina in Rom, im Pariser Louvre, Tagungen und Vortragsreihen in Tübingen, Leipzig und anderswo sowie 190 Millionen Treffer im Internet.
Bei Taschen ist ein Katalog mit seinem Gesamtwerk erschienen. Ältere Werke wurden neu aufgelegt. Große Gelehrte wie Alessandro Vezzosi, Bernd Roeck, Volker Reinhardt haben das Jubiläum zum Anlass für neue Biografien genommen. [1] Einen der originellsten Beiträge zum Leonardo Jubiläum hat die Kunsthistorikerin, -kritikerin und Feuilletonistin der Süddeutschen Zeitung Kia Vahland dem Publikum geschenkt. Kia Vahland zeigt wie Leonardos Darstellung die Sicht auf und damit langfristig die Stellung der Frauen im abendländischen Kulturkreis verändert hat. Ganz anders als in der, auch nach 1945 wirkmächtigen, von Mussolini initiierten großen Leonardo-Ausstellung 1939 in Mailand, in der da Vinci als visionärer Ingenieur, Übermensch und Universalgenie dargestellt wurde, tritt uns mit Hilfe Vahlands ein verletzlicher, suchender, reflektierender Mensch entgegen. Dazu trug sicherlich seine Intersektionalität bei, die Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen in seiner Person: er war unehelich geboren, durfte daher nicht studieren, blieb ohne höhere Ausbildung, als "Bastard" konnte er nicht wie sein Vater Notar werden, er war Linkshänder, Vegetarier, wurde als Ketzer angegriffen, deswegen schrieb er wohl in Spiegelschrift, seine untypische Sicht der Frauen, ein entschiedener Individualist und er fühlte sich sexuell zu Männern bzw. Knaben hingezogen. Seinen langjährigen Lebensgefährten Salai nahm er als Zehnjährigen zu sich.
Möglicherweise war es diese prekäre Lebenssituation, die seine besondere Empathie zu Frauen bestärkte. Zudem sah er in Frauen verwandte Wesen, gottgleiche Schöpferinnen, die Leben schenken konnten, wie er, der zeitlose Wesen auf Bildträgern schuf. "Maler und Frauen sind wegen ihrer Nähe zur Schöpfung" enge "Verwandte Gottes" (38). Später bezeichnet er den Maler selbst als Gott (123). "Mit Genugtuung erfüllte es ihn, wie er schrieb, dass seine schönen gemalten Frauen viel länger auf der Erde weilen als ihre natürlichen Vorbilder" (269). Für ihn war die Malerei die höchste aller Wissenschaften. Er machte sie zum Leitmedium seiner Zeit. Es ging nicht mehr darum, die Natur nur darzustellen, sondern sie zu verstehen.
Auf breiter Quellenbasis und mit Hilfe von Leonardos Bildern schildert die Autorin Leonardos Lebensweg, auch fragwürdige Verbindungen wie seine Dienste für Ludovico Sforza oder Cesare Borgia. Für sie entwarf er Kriegsmaschinen, obwohl er den Krieg "eine höchst bestialische Verrücktheit" nannte (217). Anhand von drei Porträts, Ginevra de'Benci, Cecilia Gallerani, der Dame mit dem Hermelin, und der Mona Lisa zeigt Vahland, wie Leonardo das Frauenbild revolutionierte. Im Mittelalter gab es, abgesehen von Heiligendarstellungen keine Frauenbilder, in der Renaissance wurden Frauen nur im Profil dargestellt, da es als unsittlich galt, einer Frau in die Augen zu schauen. In Venedig wurden praktisch nur Männer porträtiert (187). Die realen Frauen waren "unsichtbar" (188). Leonardos Malerei ist weiblich. Von seinen 15 Tafelbildern zeigen nur zwei Männer, den "Heiligen Hieronymus" und "Johannes den Täufer", Fürstenporträts fehlen völlig. "Leonardo hat so viel für die Sichtbarkeit von Frauen getan wie kein anderer Maler" vor ihm (7). Er schuf "Wesen eigenen Rechts in einer Epoche weiblicher Rechtlosigkeit" (8). Leonardos Frauen sind dem Betrachter zugewandt als ebenbürtiges Gegenüber. Sie sind keine schönen Objekte, keine Schmuckstücke. Ihm ging es nicht um die Darstellung einer Pose, sondern von Gedanken und Gefühlen, um das Wesen der Dargestellten. Das Bildnis der jungen Ginevra de'Benci wurde das "erste psychologische Porträt" überhaupt (89), ein Gegenbild zu Petrarcas ätherischer und unwirklicher Laura (102). "Die Frauenemanzipation braucht noch ein halbes Jahrtausend. Die Emanzipation der Kunst aber vollzieht sich in diesem Moment" (116). "Ein guter Maler hat zwei Hauptsachen zu malen" notierte da Vinci, "nämlich den Menschen und die Absicht seiner Seele" (17). Diese Darstellungen selbstbewusster Frauen revolutionierten die Kunstgeschichte, in einer Zeit als die Mehrheit der Gelehrten Frauen jegliche intellektuellen Fähigkeiten, aber auch das Vermögen Liebe zu empfinden absprachen, als Frauen keine Rechte hatten, sondern stets männlicher Besitz waren. Das Frauenbild Leonardos, das uns seine Kunst noch heute vermittelt, unterschied sich radikal von dem der damaligen Mehrheitsgesellschaft. Dies verweist, wie seine "Landschaft mit Fluss" von 1473, die erste reine Landschaftsdarstellung, ohne Heiligenszene, auch darauf, wie weit die Säkularisierung bereits fortgeschritten war, bevor mit der Reformation der Wettlauf der Konfessionen einsetzte, wer gottgefälliger sei. Mit dieser Skizze schuf er das Genre des autonomen Landschaftsbildes (45).
Zum Schluss nimmt Kia Vahland noch sehr entschieden Stellung zu einigen Neuzuschreibungen von Renaissancewerken, die nun wertsteigernd von Leonardo stammen sollen, wie im gesamten Buch mit überzeugenden, sachkundigen Werkanalysen. So auch hinsichtlich des "Salvator Mundi", für den im November 2017 im Auktionshaus Christie's der höchste je erzielte Auktionspreis, 450,3 Millionen Dollar, gezahlt wurde. "Zwei seiner Gewandstudien lassen sich vage mit dem Gemälde in Verbindung bringen; zwingend ist das nicht. Kein Augenzeuge aus der Renaissance berichtet, einen solchen eine Glaskugel balancierenden Heiland auf Leonardos Staffelei gesehen zu haben - obwohl sich ansonsten jede Erfindung des Malers sofort in Florenz und Mailand herumgesprochen hat. [...] Wie verhält sich der eher weihevolle 'Salvator' zu der diskursiven Religiosität des 'Abendmahls'? Wie ist die frontale Haltung der Figur zu verstehen, ging es Leonardo doch darum, Regungen des Geistes in Körper- und Augenbewegungen zu übersetzen? Was sagt die Glaskugel aus über Leonardos Bild vom Kosmos, wie fügt sie sich in seine Vorstellungen von der Weltentwicklung?" (271).
Die Leonardo-Biografie von Kia Vahland, opulent mit ganzseitigen farbigen Abbildungen ausgestattet, ist klug, brillant geschrieben, geistreich, originell und unbedingt lesenswert, ein anregendes Vergnügen. Weit über eine Künstlerbiografie hinausgehend handelt es sich zudem um eine Kulturgeschichte der Geschlechterbeziehungen, der Existenz von Frauen und männerliebender Männer in der Hochrenaissance.
Anmerkung:
[1] Frank Zöllner / Johannes Nathan: Leonardo. Sämtliche Gemälde und Zeichnungen, Köln 2019 (ursprünglich 2003); Alessandro Vezzosi: Leonardo da Vinci. Die Gemälde. Das komplette Werk, München 2019; Bernd Roeck: Leonardo. Der Mann, der alles wissen wollte, München 2019; Volker Reinhardt: Leonardo da Vinci. Das Auge der Welt. Die Biografie, München 2018; Walter Isaacson: Leonardo da Vinci. Die Biografie, Berlin 2018.
Wolfgang Burgdorf