Melissa Feinberg: Curtain of Lies. The Battle over Truth in Stalinist Eastern Europe, Oxford: Oxford University Press 2017, ISBN 978-0-19-064461-1, GBP 59,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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In ihrem Buch zur "transnationalen politischen Kultur des Kalten Krieges" (xv) entwickelt Melissa Feinberg eine innovative Lesart des Ost-West-Konflikts. Im Zentrum der Studie steht die politische Instrumentalisierung des Wahrheitsbegriffs als Mittel zur normativen Neuordnung, die mit der stalinistischen Gleichschaltung der sog. "Volksdemokratien" einsetzte. Die Autorin geht dem Verständnis von "Wahrheit" und "Lüge" in Zeiten extremer Polarisierung auf den Grund, jedoch nicht ohne dabei auch den in totalitären Deutungsmustern verharrenden westlichen Blick auf die sowjetischen Satellitenstaaten unter die Lupe zu nehmen. Somit wählt Feinberg einen transnationalen Zugang für ihre Analyse des die Vorstellungswelten in Ost und West dominierenden manichäischen Weltbildes, das zum politischen und moralischen Kompass der stalinistischen Gesellschaften Ostmittel- und Südosteuropas, aber auch des sich gegen eine weitere Expansion des sowjetischen Einflussbereiches wappnenden Westens wurde.
Die "Volksdemokratien" waren zugleich Hauptschauplatz ideologischer Rivalität und Projektionsfläche, ob nun als Musterbeispiel sozialistischer Moderne und Bastion der linken Friedensbewegung oder als Kriegsbeute einer totalitären Macht und Heimstatt der captive nations. Damit wurde der Kalte Krieg auf dem Rücken der Osteuropäer, aber, wie Feinberg anschaulich darstellt, auch mit ihrer aktiven Unterstützung ausgetragen. In sechs mehr oder weniger freistehenden Kapiteln geht sie der Frage nach, wie die Menschen in den "Volksdemokratien" eigene Erfahrungen zwischen den weltanschaulichen Extremen des stalinistischen Normenkatalogs und der den Eisernen Vorhang durchdringenden Gegenpropaganda westlicher Rundfunksender verorteten. Im Mittelpunkt der Analyse stehen Interviews, die 1950-1956 von Radio Free Europe (RFE) und Voice of America (VoA) in großer Zahl mit in den Westen geflohenen Bürgern sozialistischer Staaten geführt wurden. Die Interviews erlaubten den Rundfunkmitarbeitern, die oftmals selbst Emigranten waren und aus den Herkunftsländern der Befragten stammten, einzigartige Einblicke hinter die Kulissen stalinistischer Lebenswelten und bildeten die Grundlage für den laufenden Sendebetrieb. Anders als frühere Studien zu dem Thema ist Curtain of Lies weniger an der Substanz und Belastbarkeit der Aussagen über das Leben in den "Volksdemokratien" interessiert als an den Spuren der Konfrontation zweier Deutungswelten, die sich aus den transkribierten Gesprächen herauslesen lassen. Die Berichte der Geflüchteten waren, so die Hauptthese, nicht nur geformt von einer den Eisernen Vorhang überspannenden politischen Kultur, deren Fixierung auf die Dichotomie von Wahrheit und Lüge wenig Platz für Zwischentöne ließ. Sie trugen auch, bewusst oder unbewusst, selbst zur Untermauerung des im Westen vorherrschenden totalitären Narrativs bei.
Im ersten Teil des Buches skizziert Feinberg die Koordinaten des "manichäischen Weltbilds des Kalten Krieges" (144). Anhand von stalinistischen Schauprozessen und der transnationalen Friedensbewegung erörtern die einleitenden Kapitel die Konsolidierungsstrategien des sozialistischen Lagers, die der Konstruktion des Westens als Antithese zu egalitären und pazifistischen Idealen dienten. Zeitgleich entbrannte jenseits des Eisernen Vorhangs der "Kampf um die Köpfe und Herzen" der captive nations. Mit dem Aufbau antikommunistischer Rundfunkanstalten wurde ein neues Kapitel psychologischer Kriegsführung eröffnet, die den "Lügen" stalinistischer Propaganda die "Wahrheit" als, wie ein zeitgenössisches Flugblatt tönte, "tödlichste Waffe gegen die kommunistische Tyrannei" (67) entgegensetzte. Mit dem wiederkehrenden Motiv der Angst, derer sich die "Monopolisten der Wahrheit" (36) in Ost und West bedienten, sei es nun vor Denunziation, Infiltration oder einem drohenden Atomkrieg, knüpft die Studie an emotionsgeschichtliche Ansätze an. Die Funktion der Angst als mobilisierende und konsolidierende Kraft, aber auch ihr Einfluss auf politische Vorstellungswelten zieht sich als roter Faden durch den zweiten Teil der Studie, der sich ganz der Quellenanalyse widmet. Feinberg interpretiert die Interviews aus den Archiven von RFE und VoA als Produkt eines grenz- und blocküberschreitenden Transfers von Deutungsmustern und Stereotypen des Kalten Krieges. Das in vielen Augenzeugenberichten wiederkehrende Bild einer atomisierten, von Angst gelähmten Bevölkerung entsprach somit gänzlich der Erwartungshaltung der Befrager. Aussagen, die dieses Bild infrage stellten, wie etwas Berichte über Schwarzmarkthandel, Streiks und Diebstahl, wurden dagegen, wie Feinberg nachvollziehbar argumentiert, erfolgreich ausgeblendet. Der Autorin zufolge waren jedoch nicht nur die Mitarbeiter der Rundfunkanstalten unfähig oder unwillig, das Leben im Stalinismus außerhalb des totalitären Referenzrahmens zu begreifen, sondern auch die Geflüchteten selbst.
Die Frage, welchen Einfluss westliche Rundfunksender auf die sozialistischen Gesellschaften ausübten, ist in der Forschung ausführlich diskutiert worden. Während eine Mitverantwortung für den blutig niedergeschlagenen Ungarischen Volksaufstand bereits in den späten 1950er Jahren debattiert wurde, sieht Feinberg die unmittelbaren Folgen eher in der Ausbreitung von Passivität und Resignation. Die Interviews, so die Autorin, illustrierten die Auswirkungen des Konzepts der captive nations auf die Selbstwahrnehmung der Osteuropäer als "captive slaves" (118). Diesem Gedanken folgend war die Interpretation des Erlebten durch die Brille westlicher Totalitarismustheorien auch ein Weg, um eigene politische und moralische Zugeständnisse an das System zu rechtfertigen. Angst war ein Faktor, der für die Mitarbeiter der Rundfunksender als Beweggrund für das Verhalten der Befragten ebenso schwer zu verifizieren war wie für die Autorin selbst. Dasselbe gilt jedoch auch für die Motive hinter den Narrativen in den untersuchten Interviews. Man mag deshalb an mancher Stelle einwenden, dass die Studie allzu sehr auf eigenen Hypothesen aufbaut und sich Spekulationen über die Vorstellungswelten der Bevölkerung in den "Volksdemokratien" hingibt, die vielleicht doch einer breiteren Quellengrundlage bedürften. Ein ausführlicheres Endkapitel, das die losen Fäden der in den Teilkapiteln entwickelten, unbestritten interessanten Ansätze verknüpft, wäre ebenfalls wünschenswert gewesen. Dennoch ist das Buch ein wichtiger Beitrag zu aktuellen Debatten um transnationale Verknüpfungen im Kalten Krieg, in denen die Ära zwischen 1948 und 1956 etwas aus dem Blick geraten ist. Die Analyse der politischen Kultur des Kalten Krieges liefert Antworten auf die Frage, warum sich antikommunistische Akteure auch nach Beginn des Tauwetters lange schwertaten, einen nuancierten Blick auf die sozialistischen Lebenswelten zu entwickeln, und hinterfragt Sprache und Weltsicht des Kalten Krieges selbst, deren Nachhall auch innerhalb der historischen Forschung viel zu selten thematisiert wird.
Lars Fredrik Stöcker