James Cameron: The Double Game. The Demise of America's First Missile Defense System and the Rise of Strategic Arms Limitation, Oxford: Oxford University Press 2018, XVI + 234 S., ISBN 978-0-19-045992-5, GBP 53,00
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Die wissenschaftliche Forschung zur atomaren Konfrontation im Kalten Krieg, hier insbesondere die Fragen nach Militärstrategie und Nuklearrüstung, konzentrierte sich lange Zeit vornehmlich auf die Regierungsebene, die maßgeblichen militärischen Stäbe sowie die führenden Fachkreise (Defence Community). Die rational-logische Ausgestaltung der Strategie und deren unauflösliche Widersprüche infolge des nuklearen Patts und der stets drohenden wechselseitigen Vernichtung als Garantie für die Wahrung des Friedens (mutual assured destruction/MAD) standen dabei im Vordergrund. Im Falle der NATO lag der Fokus insbesondere auf der Atomwaffenfrage als bündnispolitisches Problem. Betrachtet wurde hier vor allem der politisch-militärisch Aushandlungsprozess auf internationaler diplomatischer Ebene.
Andere Faktoren wie die Innenpolitik wurden zwar nicht ausgeklammert, aber doch eher als Nebenthema behandelt. In den letzten beiden Jahrzehnten setzte sich indes die Auffassung durch, dass internationale Geschichte, hier auch die militärstrategischen Aspekte, immer auch unter der Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik zu bewerten sind.
Dieser, inzwischen zum internationalen Standard gehörenden Forderung wird der Autor des vorliegenden Werkes nicht nur gerecht, sondern er bereichert die Betrachtung auch noch durch psychologische und diskursanalytische Perspektiven. James Cameron beleuchtet die Politik der Regierungen John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Richard M. Nixon vor dem Hintergrund der bipolaren Konfrontation, insbesondere dem Verlust der atomaren Überlegenheit (nuclear superiority) der USA infolge der Aufrüstung der Sowjetunion gerade im Bereich der strategischen Interkontinentalraketen.
Die Studie ist insgesamt gelungen, wenn sie auch kein vollkommenes Neuland betritt. Der Mehrwert für den Leser besteht darin, dass die wechselseitigen Dynamiken zwischen den Präsidenten und ihrem Beraterstab, den involvierten Ministerien (v.a. State Department und Pentagon), den innenpolitischen Akteuren mit dem Senat an der Spitze und nicht zuletzt dem militärisch-politischen Gegner, der UdSSR, sehr gut analysiert werden. Deutlich wird, welche Unwägbarkeiten und Widersprüche die komplizierte Gemengelage erzeugte. Die ursprünglichen Ziele und Überzeugungen der jeweiligen US-Präsidenten wurden durch die politischen Zwänge teils ins gerade Gegenteil verkehrt.
Der Titel der Studie erklärt sich aus ihrem Hauptbefund. Cameron resümiert, dass es sich kein US-Präsident leisten konnte, öffentlich Schwäche zu zeigen oder gar nur zu suggerieren, dass die USA durch die Atomrüstung der UdSSR in eine unterlegene Position gelangen könnte. Dies hatte zur Folge, dass ein Gutteil an Unnachgiebigkeit an den Tag gelegt werden musste und gleichzeitig Lösungen zu präsentieren waren, wie sich die amerikanische Überlegenheit aufrechterhalten ließ. Privat hatten die Präsidenten indes erhebliche Zweifel und Sorgen, ob ein harter Kurs nicht doch zur Überlastung der eigenen Mittel und eventuell zu weiterer Konfrontation oder schließlich gar zum Atomkrieg führen konnte. Dieser Widerspruch musste überspielt werden ("Double Game"), erzeugte jedoch im Handeln der Präsidenten erhebliche Probleme.
Die Regierung Johnson etwa verfolgte grundsätzlich das Ziel, die Probleme im eigenen Land zu lösen und eine gerechte Gesellschaft zu schaffen ("Great Society"), hatte daher kaum Interesse, sich auf ausgedehnte atomare Rüstungswettläufe einzulassen oder entsprechende Raketenabwehrsysteme zu beschaffen. Verteidigungsminister Robert McNamara stand damit vor dem Problem, die amerikanische Öffentlichkeit und auch den Kreml davon zu überzeugen, dass die Sowjetunion schon aus Eigeninteresse (Gewährleistung der Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Nahrung und Konsumgütern) nicht übertrieben aufrüsten und sich mit dem zweiten Platz hinter den USA begnügen würde. Abgesehen davon, dass hier eine ausgesprochene Fehlinterpretation des sowjetischen Systems vorlag ("mirror image" des US-Modells), dachte die sowjetische Führung gar nicht daran, sich von entsprechenden Argumenten aus Washington von der Aufrüstung abhalten zu lassen und machte dies auch in den entsprechenden Verhandlungen sehr deutlich. Die amerikanische Öffentlichkeit akzeptierte derlei ebenfalls nicht und forderte weitere Aufrüstung und insbesondere auch die Beschaffung von ABM-Systemen, also von Systemen zum Schutz vor ballistischen (nuklearen) Interkontinentalraketen. Man kann sagen, dass der Diskurs hier der US-Regierung und insbesondere dem glücklosen McNamara eine Politik aufzwang, die diese gar nicht wollten.
Nicht anders, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, erging es der nachfolgenden Nixon-Administration. Nixon zählte eigentlich zu den Falken und wollte keineswegs ein nukleares Patt akzeptieren. Indes begann sich unter dem Eindruck der einsetzenden Entspannungspolitik das innenpolitische Klima zu wandeln, wozu auch der zunehmend teure Vietnamkrieg beitrug. Es blieb Nixon daher nichts Anderes übrig, als die Realitäten (das nukleare Patt) zu akzeptieren und das SALT I Abkommen zu unterzeichnen.
Die Studie von Cameron ist zwar keine Diskursanalyse im postmodernen Sinne, zeigt aber sehr gut die Rolle von Kommunikation, Diskurs und den Dynamiken bei dessen unterschiedlichen Akteuren auf. Sie liefert damit einen wichtigen Beitrag zur Beleuchtung der Hintergründe der Atomrüstung und der Abrüstungsverhandlungen auch jenseits der Regierungen und Kabinette.
Indes sind gelegentlich Probleme bei den Quellenbelegen zu erkennen. Es ist naturgemäß schwierig, die inneren Beweggründe und Seelenzustände der US-Präsidenten immer genau nachzuweisen. So kann der Autor nur indirekt auf Kennedys Zweifel am nuklearen Rüstungskurs der USA hinweisen. Ferner ist die grundlegende Gestaltung der Studie etwas mechanistisch. Im Grunde präsentiert der Autor sein Fazit schon in der Einleitung und wiederholt dies dann im Résumé. Dies erweckt den Eindruck einer präformierenden Betrachtungsweise, schmälert jedoch die Darstellung und die Analyse in den Hauptkapiteln nicht. Insgesamt liegt eine solide Arbeit mit Standardcharakter vor, die allerdings nicht grundstürzend über den etablierten Quellenfokus hinausgeht. Konsultiert wurden die großen Archive in Washington und die entsprechenden Presidential Libraries.
Bernd Lemke