Teresa Agethen: Apographa epistolarum - Die Tegernseer Briefsammlung des 15. Jahrhunderts. Untersuchung und Regesten-Edition (= Diskurs und Gemeinschaft. Die Schriften Bernhards von Waging im Kontext der spätmittelalterlichen Reformprozesse. Kritische Edition Erschließung Rekonstruktion. Serie II: Untersuchungen; Bd. 2), Münster: Aschendorff 2019, 402 S., 9 Farbabb., ISBN 978-3-402-10397-5, EUR 55,00
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Man kann durchaus ein ganzes Buch über eine einzige mittelalterliche Handschrift schreiben. Teresa Agethen hat dies getan und ihre Dissertation im Fach Mittellateinische Philologie dem Clm 19697 der Bayerischen Staatsbibliothek in München gewidmet. Hauptsächlicher Inhalt der Handschrift ist die Tegernseer Briefsammlung aus dem 15. Jahrhundert. Sie ist Bestandteil des von Marc-Aeilko Aris (LMU München) geleiteten DFG-Projekts zu den Schriften Bernhards von Waging, bei dem neben deren Edition die von ihm maßgeblich vermittelte monastische Reformbewegung und das damit verbundene personelle Netzwerk Gegenstand sind. Als leitender Gedanke der Dissertation wird in der Einleitung die in der Vergangenheit schon verschiedentlich bewegte Frage aufgeworfen, inwieweit eine mittelalterliche Briefsammlung intentional eher an stilistischen oder an inhaltlichen Kriterien ausgerichtet war, mit anderen Worten, was als die primäre causa colligendi anzusehen ist.
Konsequenterweise befasst sich ein einführendes Kapitel nicht etwa mit dem Kloster Tegernsee und der von Melk ausgehenden Reformbewegung, sondern mit Grundfragen der Epistolographie, mit Brief, Briefsammlung und Brieftheorie im Mittelalter. Agethen legt ihren Schwerpunkt auf Musterbriefsammlungen, in denen sie, in eigener Terminologie, Formularbriefe von Formelbriefen abgrenzen will. Formularbriefe können als Ganzes zur Abfassung eines neuen Briefes herangezogen werden, Formelbriefe enthalten lediglich Briefformeln zu einzelnen Briefteilen oder Redewendungen. Terminologisches Neuland betritt sie auch mit dem Versuch, nach ars dictandi und usus dictandi zu differenzieren und damit theoretisch-didaktische Traktate zum Briefstil von schematisch-tabellarischen Formelsammlungen zu unterscheiden. Hingegen ganz traditionell geht sie vor, wenn sie neben Musterbriefen Originalbriefe, Briefabschriften und Konzeptbriefe (i. e. Briefkonzepte) erkennt, womit die möglichen Überlieferungsstufen benannt sind. Es folgen einige knappe Bemerkungen zur mittelalterlichen Briefstillehre, der Ars dictaminis, mit ihren theoretischen Traktaten und Musterbriefsammlungen, in denen man unter anderem das weithin verbreitete fünfgliedrige Briefschema erklärte und exemplarisch anwandte.
Wichtig für die Kenntnis des Clm 19697 ist eine kodikologische Beschreibung, mit der die eigentliche Untersuchung eröffnet wird. Der Band enthält 256 Blätter aus Papier im Quartformat und ist im Laufe des 15. Jahrhunderts vermutlich im Kloster Tegernsee entstanden. Sein Kernstück ist die Tegernseer Briefsammlung mit rund 450 Schreiben, die phasenweise eingetragen wurden und somit im Wesentlichen chronologisch angeordnet sind. Die Eintragungen enden, von einer Ausnahme abgesehen, um die Mitte der 1470er Jahre. Ein vollständiges Digitalisat im Netz [1] führt die sehr inhomogene Anlage der Handschrift vor Augen. Dies zeigt sich schon an der ausgesprochen uneinheitlichen Lagenformel, bei der keine Lage der anderen gleicht. Der Befund fordert eigentlich eine eingehende Bestimmung der Wasserzeichen, womit der Entstehungsprozess genauer nachgezeichnet werden könnte. Agethen hat sicher recht, wenn sie auf die damit verbundenen Schwierigkeiten bei einer Quarthandschrift, deren Wasserzeichen sich im Falz befinden, hinweist, doch etwas mehr als die Benennung diverser Formen wäre wohl schon möglich gewesen. Entsprechendes gilt für die zahlreichen beteiligten Hände, deren Anzahl sie auf 20, möglicherweise auch 30 bis 40 ansetzt, ohne auch nur im Ansatz eine paläographische Analyse zu versuchen. Hier wurden Möglichkeiten verschenkt. Die Entstehungsgeschichte der Handschrift bleibt, abgesehen von der Erkenntnis, dass sie mehr oder weniger gleichzeitig angelegt wurde, im Dunkeln. Wertvoll ist allerdings, dass eine ganze Reihe von weiteren Handschriften, die einzelne oder mehrere Briefe der Tegernseer Sammlung in Parallelüberlieferung enthalten, untersucht wird.
Fundamental ist eine 130 Seiten umfassende Regestenedition, die die Tegernseer Briefsammlung inhaltlich erschließt. Für jeden der im Kodex von 1 bis 454 gezählten lateinischen Briefe werden im Stil einer Datenbank Basisdaten wie Absender, Empfänger, Ausstellungsort, Ausstellungsdatum, Parallelüberlieferung und einschlägige Fachliteratur angegeben. Knapp gehaltene Inhaltsangaben informieren präzise über die im jeweiligen Brief behandelten Gegenstände. Ein System von Deskriptoren dient der Verschlagwortung des Materials; wichtig ist in diesem Zusammenhang ganz am Ende des Bandes ein Deskriptorenregister, das den Zugriff auf bestimmte Sachverhalte ermöglicht. Mit der Tegernseer Briefsammlung ist der Inhalt des Clm 19697 allerdings noch nicht erschöpft. Auf den letzten rund 60 Folien befinden sich die unedierte "Lucerna dictaminis" des Giovanni Bondi, das Lehrgedicht "Summa Iovis" sowie diverse weitere briefdidaktische Traktate und mehrere kleinere Briefsammlungen, die allesamt in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Tegernseer Briefsammlung stehen.
Das zentrale Kapitel des Buches ist gemäß der eingangs aufgeworfenen Leitfrage zweigeteilt. Es beschäftigt sich zunächst mit der Verbindung von Brieftheorie und Briefpraxis in einer klösterlichen Briefsammlung und nimmt sodann eine inhaltliche Untersuchung der Tegernseer Briefe vor. Im epistolographischen Teil wird einsichtig herausgearbeitet, dass die Kompilation nur in bestimmten Bereichen als eine Musterbriefsammlung angelegt wurde und somit nicht auf diesen Aspekt reduziert werden kann. Vor allem wollte man mit ihr eine historische Dokumentation herstellen. Dass die Schreiben dann vielfach als Musterbriefe rezipiert wurden, steht hierzu keineswegs im Widerspruch. Eine Untersuchung zur Abfassung von Briefen mittels der kompletten Übernahme eines anderen Briefs oder auch nur von bestimmten Phrasen und Passagen sowie der Vergleich mit anderen klösterlichen Briefsammlungen auch des hohen Mittelalters schließen sich an.
Die epistolographischen Ausführungen bringen Licht in die so schwer zu durchschauende Tegernseer Briefsammlung, sie vermögen aber nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen. Dies betrifft schon die Anwendung der wenig ergiebigen terminologischen Neuschöpfungen des einleitenden Kapitels. Die Differenzierung nach Formular- und Formelbriefen ist aufgrund einer Vielzahl von Übergangsformen kaum umsetzbar; zudem wird vernachlässigt, dass man sich zu jener Zeit an einer Briefsammlung auch schulte, indem man darin blätterte und las, ohne gleich einen neuen Brief produzieren zu wollen. Ignoriert werden darüber hinaus die Erkenntnisse von Benoît Grévin, der zeigen konnte, wie einerseits ganze Textblöcke, andererseits einzelne Phrasen immer wieder collagenartig zu einem neuen Brief zusammengebaut wurden. [2] Wenig geeignet erscheint zudem die Unterscheidung von ars und usus dictandi, die völlig an der wissenschaftlichen Terminologie und auch weitgehend am mittelalterlichen Sprachgebrauch vorbeigeht. Noch weitaus schwerer wiegt, dass die mittelalterliche Briefstillehre bei den Überlegungen Agethens kaum eine Rolle spielt. Inwieweit die Tegernseer Briefe ihrem Regelwerk entsprechen, ob sie, Musterbriefe oder nicht, die Funktion von form- und stilgerechten Dictamina einnahmen, wird in keiner Weise ersichtlich. Schade, dass bei der Arbeit an der Dissertation das 2019 erschienene Handbuch der Ars dictaminis mit seinen umfassenden Erklärungen und Ausführungen noch nicht vorlag. [3]
Agethen konstatiert bei der Konzeption der Tegernseer Briefsammlung neben dem stilistischen ein ausgeprägtes inhaltliches Interesse, wofür ja schon die gleichzeitige oder phasenweise Anlage spricht. Für die inhaltliche Untersuchung der Briefe wählt sie exemplarisch bestimmte Themen aus, womit ein Einblick in die Vielfalt der Schreiben geboten werden soll. Unter dieser Prämisse werden recht eingehend Briefe zu Gebetsverbrüderung, Totengedenken und Freundschaften, zu den Beziehungen Tegernsees zum Kloster Melk, zum Tegernseer Abt Kaspar Ayndorffer und zum Prior Bernhard von Waging als den zentralen Personen der Briefsammlung, zu inner- und außerklösterlichen Alltagsfragen wie auch zu Reform und Bildung analysiert und eingeordnet. Agethen stellt fest, dass speziell die großen Themen des Reformdiskurses für die Zukunft festgehalten werden sollten, womit die Briefsammlung auch unter einem memorialen Aspekt zu sehen ist. Dennoch will sie sich hinsichtlich der Intention der Sammlung nicht definitiv festlegen. Die Frage nach der causa colligendi bleibt offen.
Abschließend macht Agethen deutlich, dass die Tegernseer Briefsammlung primär innerhalb der monastischen Reformbewegung zu verorten sei. Mit humanistischen Strömungen und der Devotio moderna zeigen sich in den Briefen zwar Berührungspunkte, vordergründig sind sie in der Kompilation aber nicht von Bedeutung.
Dem Buch von Teresa Agethen kommt das große Verdienst zu, die bislang wenig bekannte und nur unter Schwierigkeiten zu bearbeitende Tegernseer Briefsammlung erstmals inhaltlich zu erschließen und damit überhaupt erst richtig zugänglich zu machen. Die kodikologischen und epistolographischen Ausführungen können freilich nicht vollauf überzeugen, so dass insgesamt ein ambivalenter Eindruck bleibt.
Anmerkungen:
[1] http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0008/bsb00086614/images/
[2] Vgl. hier nur Benoît Grévin: Zur Benutzung der päpstlichen Briefsammlungen des 13. Jahrhunderts im Spätmittelalter. Das Beispiel der französischen Königskanzlei, in: Kuriale Briefkultur im späteren Mittelalter. Gestaltung - Überlieferung - Rezeption, hgg. v. Tanja Broser / Andreas Fischer / Matthias Thumser (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii; 37), Wien / Köln / Weimar 2015, 313-334.
[3] Ars dictaminis. Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre, hgg. v. Florian Hartmann / Benoît Grévin (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; 65), Stuttgart 2019.
Matthias Thumser