Jens Hüttmann / Anna von Arnim-Rosenthal (Hgg.): Diktatur und Demokratie im Unterricht. Der Fall DDR, Berlin: Metropol 2017, 285 S., ISBN 978-3-86331-337-1, EUR 19,00
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Klaus Schroeder / Jochen Staadt (Hgg.): Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989. Ein biografisches Handbuch, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2017
Die Auseinandersetzung um Stellenwert und Funktion der DDR-Geschichte in der historisch-politischen Bildungsarbeit ist seit 1990 Teil des Wiedervereinigungsdiskurses. Die Aufarbeitung 'weißer Flecken' der Diktaturgeschichte ist nunmehr weitgehend erreicht und die Geschichte der zweiten deutschen Diktatur hat bundesweit Eingang in Lehrpläne und Schulbücher gefunden. Eigentlich sollte man in Jubiläumsjahren der deutsch-deutschen Einheit diese Erfolgsgeschichte historisch-politischer Bildung vergegenwärtigen. Dem ist bekanntlich nicht so. Wiederholt wird die Schere zwischen Bildungsangebot und -nutzen kritisiert. Denn im scheinbaren Widerspruch zur Fülle didaktischer Materialien und historisch-politischer Bildungsangebote in Museen und Gedenkstätten stehen Tendenzen zur Verklärung der DDR oder das geringe Schülerwissen zur DDR-Geschichte. Das Dilemma ist weder neu noch zu heilen, aber es muss in seinen Ursachen und Konsequenzen breit und auch öffentlich diskutiert werden. Dieses ambitionierte Anliegen verfolgt der vorliegende Sammelband der Stiftung Aufarbeitung, in dem sie Akteur*innen aus Geschichtswissenschaft, Politik und Schulverwaltung, Geschichtsdidaktik, historisch-politischer Bildungsarbeit, aber auch aus der Schulpraxis ein Forum bietet, kontroverse Positionen, empirische Befunde sowie inhaltliche und methodische Zugänge zur DDR-Geschichte zu präsentieren.
Die Einleitung der Herausgeber*innen Jens Hüttmann und Anna von Arnim-Rosenthal lässt bereits zentrale Diskurslinien zum Umgang mit DDR-Geschichte(n) anklingen. So wird historische Urteilsbildung als komplexer Lernprozess problematisiert, der sich nicht auf das Ziel sozial-politisch erwünschter Wertevermittlung im Spannungsfeld von Diktatur- und Demokratiegeschichte reduzieren lässt. Ebenso gewinnt Gegenwartsorientierung (und nicht Vergangenheitsdistanzierung) als didaktisches Prinzip historisch-politischer Bildung an Kontur und damit Offenheit und Vielfalt thematischer und methodischer Zugänge an Gewicht. Ausgehend von diesen Prämissen, vermessen die Beiträge den "Fall DDR" als produktives Lernfeld. Nach dem Diskurs über die 'richtige' DDR-Geschichte ist dieser Perspektivwechsel bemerkenswert und hochaktuell: Die Geschichte der DDR wird von einem Gegenstand historisch-politischer Aufarbeitung zu einem Lerninhalt, der begründete historisch-politische Urteilsbildung provoziert.
Für Potentiale und Grenzen dieses Perspektivwechsels sensibilisiert der zielführend gegliederte Band. Den Auftakt bilden drei Beiträge, die aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive die Forschungsentwicklung zur DDR-Geschichte und SED-Diktatur skizzieren (Faulenbach), Forschungsperspektiven unter anderem im Bereich der Gesellschafts-, Transformations- sowie deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte entwickeln (Hoffmann / Schwartz / Wentker) und für Potentiale einer transnationalen und diachron ausgerichteten Kommunismusgeschichte sensibilisieren (Kaminsky).
Eine zweite Gruppe von geschichtsdidaktisch ausgerichteten Beiträgen problematisiert das Verhältnis von curricularen Anforderungen und empirischen Befunden zum Schülerwissen über die DDR. Während Kraus die mangelhaften Befunde zum Schülerwissen als Ergebnis bildungspolitischer Fehlentwicklungen im Umgang mit DDR-Geschichte interpretiert und für die Etablierung eines Wissenskanons plädiert, argumentiert Hamann, dass Schülerstudien eher die Grenzen einer einseitigen Wissensorientierung spiegeln. Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht böte dagegen die Chance, historisches Denken anzuregen und historische Orientierung zu ermöglichen. Diese Argumentation stützen auch die Studien von Klausmeier und Hanisch. Ihre Schülerbefragungen rekonstruieren weniger die nostalgische Verklärung der DDR-Geschichte, sondern sie machen auch Effekte affirmativen Demokratielernens sichtbar. Beide Autor*innen unterstreichen die Notwendigkeit, familiär geprägte und widersprüchliche Schülervorstellungen als Lernvoraussetzung ernst zu nehmen, zu verunsichern und zu erweitern.
Thematische und methodische Zugänge für eine subjektorientierte historische Urteilsbildung eröffnet eine dritte Gruppe von Beiträgen, die, wie unter anderem Clarke, stärker erinnerungskulturelle Rahmenbedingungen und zukunftsfähige Orientierungspotentiale einer Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte in den Blick nimmt. Behrens und Reichling plädieren dafür, gerade im Bereich der Erwachsenenbildung deutsch-deutsche Geschichtsorte in ihrer historischen Tiefendimension, ihrer Polyvalenz und Deutungsoffenheit zu entdecken und als verunsichernde Orte didaktisch zu nutzen. Eine Schweizer Perspektive bietet Elben, indem er Fremdverstehen und Alteritätserfahrung als Potentiale des "Falles DDR" beim Unterricht in bilingualen Schweizer Klassen herausarbeitet. Thematische Zugänge für interkulturelles Lernen am Beispiel der deutsch-deutschen Geschichte entfaltet von Arnim-Rosenthal und eröffnet damit eine längst überfällige Sichtachse. Chancen der erfahrungsgeschichtlichen Differenzierung des Demokratie- und Diktaturbegriffs durch biografisches Lernen erörtert Wunnicke.
Diese Dimension der Erfahrungsgeschichte ist beim "Fall DDR" natürlich nicht nur als Familienerzählung präsent. Das Zeitzeugengespräch, dem sich die vierte Gruppe von Beiträgen widmet, gehört vielmehr zum festen Repertoire zeithistorischer Bildungsarbeit. Zeitzeugengespräche sind für Lernende motivational attraktiv, aber auch methodisch herausfordernd und in ihren Lernpotentialen durchaus umstritten. Dies diskutieren Bertram auf Basis empirischer Befunde, Hoffmann am Beispiel des VOS-Zeitzeugen- und Schulprojektes der Vereinigung der Opfer des Stalinismus zur deutsch-deutschen Migrationsgeschichte, aber auch Hüttmann und von Arnim-Rosenthal bei der Vorstellung des Bildungsportals www.zeitzeugenbuero.de.
In den abschließenden neun Beiträgen stellen Vertreter*innen außerschulischer Bildungsinstitutionen inhaltlich, medial und methodisch vielschichtige Anregungen für den Regelunterricht, aber auch für projektförmiges und fächerübergreifendes Lernen am "Fall DDR" vor. Dass für Schüler*innen die DDR bereits ein fremdes und fernes Land ist, dass Lernende eigene Fragen an diese Geschichte stellen, dokumentieren die Lehrerinterviews am Ende des Bandes. Gerade weil diese Dokumentation auch Einblicke in Lehrer*innenperspektiven eröffnet, ist es bedauerlich, dass sich offenbar keine DDR-sozialisierte Lehrperson für ein Interview gefunden hat. Dann wäre die DDR eben nicht nur ein "Fall", sondern biografische Erfahrung. Dieser 'weiße Fleck' steht allerdings für ein generelles Dilemma, das bei der Behandlung des "Falls DDR" zukünftig eigens thematisiert und historisiert werden sollte - und zwar als eine Signatur und Herausforderung der Vereinigungs- und Transformationsgeschichte historisch-politischer Bildung. In dieser Geschichte sollte auch der vorliegende Band einen Platz erhalten, da er den Dialog zwischen Geschichtswissenschaft, Geschichtsdidaktik, den Akteur*innen historisch-politischer Bildung und Schulpraxis zum "Fall DDR" initiiert, Kontroversen und Konvergenzen sicht- und furchtbar macht sowie anregende Praxisprojekte präsentiert. Mithin ist dem Band ein breites und kritisches Publikum zu wünschen.
Saskia Handro