Kirsten Gerland: Politische Jugend im Umbruch von 1988/89. Generationelle Dynamik in der DDR und der Volksrepublik Polen (= Göttinger Studien zur Generationsforschung; Bd. 22), Göttingen: Wallstein 2016, 432 S., ISBN 978-3-8353-1849-6, EUR 39,90
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Seit dem Fall der kommunistischen Regime in Mittelosteuropa im Zuge von überwiegend friedlichen Revolutionen in den Jahren 1989/90 wird in Wissenschaft und Öffentlichkeit immer wieder gefordert, diese Aufstände und ihre Vorgeschichte vergleichend zu betrachten. Das ruft zum einen den Widerstand derjenigen hervor, die nicht zu den Gegnern des Kommunismus gehörten, zum anderen scheitert der Vergleich immer wieder an Sprachschwierigkeiten sowie an den eingeschränkten Fähigkeiten vieler Forscher, das Instrumentarium des historischen Vergleichs wirklich sachgerecht zu handhaben. So gibt es bisher verschiedene Versuche des Vergleichs des mittelosteuropäischen Dissenses, doch bestehen diese in der Regel darin, dass in der gleichen Veröffentlichung zuerst die Situation in einem Land, dann separat in einem nächsten oder dritten Staat geschildert wird. Jetzt unternimmt Kirsten Gerland erneut einen Versuch, die "generationelle Dynamik" der revolutionären Jugend in der DDR und in Polen 1988/89 vergleichend zu analysieren.
Dieser Ansatz ist dann am stärksten, wenn Gerland den direkten Vergleich zwischen den oppositionellen Jugendkulturen wagt. Dabei wird deutlich, dass es in Polen seit Ende der 1970er Jahre eine "junge Protestgeneration" aus Schüler- und Jugendvereinigungen gab, die sich - von der katholischen Kirche unterstützt - die Aufgabe gestellt hatte, Polen von der "kommunistischen Fremdherrschaft" zu befreien. Diese Generation erstreckte sich von Anarchisten bis zu National-Konservativen. Sie alle einte, dass sie in einer polnischen Freiheitstradition standen und so auch von der Gesellschaft wahrgenommen wurden. Darüber hinaus waren sie bewusst Antikommunisten und fühlten sich als "Mitglieder einer generationellen Schicksalsgemeinschaft" (112), während die oppositionellen ostdeutschen Jugendlichen nicht in einer nationalen Tradition standen und überwiegend die kommunistische Diktatur hin zu einem "demokratischen Sozialismus" unter Beibehaltung der deutschen Zweistaatlichkeit reformieren wollten. Vielen von ihnen galt der "Westen" auch als Gegner.
Leider beschreibt aber auch Gerland über weite Strecken hinweg die oppositionellen "jungen Generationen" in Polen und in der DDR getrennt. Dabei stellt sie zu Recht fest, dass in Polen ein "beschränkter Pluralismus" der Jugendorganisationen zugelassen wurde und es der Jugend gelang, den "Karneval der Freiheit" der Gewerkschaft Solidarität von 1980/81 fortzusetzen. In der DDR dominierte dagegen die Selbsttäuschung der SED-Führung über ihre erfolgreiche "Jugendarbeit" - und das bis zu ihrem Ende.
Während überzeugend gezeigt werden kann, dass es in Polen eine eigenständige "politische Jugendgenerationen" gab, ist das für die DDR fraglich. So gab es für diese in den Jahren 1989/90 in Ostdeutschland trotz "Runder Tische der Jugend" und zahlreicher Gründungen von Jugendorganisationen keinen wirklichen Einfluss. Zwar brach die Parteijugend FDJ zusammen, doch begründete dies keine Jugendrevolution, sondern es ging um jugendliche Selbstvertretung. Die neuen Jugendorganisationen wie die "Marxistische Jugendvereinigung", die "Jungen Sozialdemokraten", die "Jungliberale Aktion" und die "Jugend des Demokratischen Aufbruchs" blieben letztlich machtlos. So ist die von Gerland aufgenommene Einschätzung, dass die oppositionellen Jugendvereinigungen die Friedliche Revolution initiiert hätten, so nicht aufrechtzuerhalten. Immer wieder geht es um die Frage, ob die neuen Jugendbünde in der DDR wirklich Bedeutung für Verlauf und Sieg der Revolution hatten. Da dies zu verneinen ist, kann es auch nicht verwundern, dass heute die Erinnerung an den Anteil der ostdeutschen Jugend an "1989" kaum präsent ist. Ein Grund dafür ist auch, dass die übergroße Mehrheit der Studenten in der DDR bis zu deren Ende systemloyal blieb.
Heute ist in Polen die oppositionelle Jugendgeneration an den Schaltstellen von Gesellschaft, Politik und Publizistik angekommen, sie versteht sich als Teil des Aufbaus der "Dritten Republik". Diese polnische Generation hat neue Netzwerke herausgebildet und begreift den Umbruch als "unverwechselbare Chance des beruflichen Aufstiegs" (366). Im vereinten Deutschland spielt die oppositionelle "Jugendgeneration" keine Rolle mehr: Ihre Vorstellungen konnte sie nicht realisieren und die Elitepositionen besetzten vor allem Westdeutsche. Eine gleichberechtigte Vereinigung von Jugendorganisationen aus Ost- und Westdeutschland fand ebenfalls nicht statt, sodass heute unter den ehemaligen Aktivisten weitgehend Resignation herrscht. Gerland hat Recht mit der Auffassung, dass im Prozess der deutschen Wiedervereinigung der "Mythos 'Jugend'" als gesellschaftsverändernder Kraft an Bedeutung" verlor (161). Auch ein Generationsbewusstsein als "Schicksalsgemeinschaft" der Jugendlichen hat sich nicht herausgebildet - daran wird sich wohl auch künftig nichts ändern lassen. Und das auch nicht, wenn - wie Gerland ausführt - mit der Durchsetzung des Begriffs der Friedlichen Revolution die Chance wächst, den Anteil der Ostdeutschen an ihrer Selbstbefreiung hervorzuheben (390).
Rainer Eckert