Wolfgang Hien: Die Arbeit des Körpers. Eine kritische Arbeitsgeschichte von der Hochindustrialisierung in Deutschland und Österreich bis zur neoliberalen Gegenwart. Mit einem Nachwort von Karl Heinz Roth, Wien: Mandelbaum 2018, 344 S., ISBN 978-3-85476-677-3, EUR 25,00
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"Allmählich entdeckte ich die andere Routine der Fabrik: die Tatsache, ständig der Aggression der Dinge ausgesetzt zu sein; der fortwährende unangenehme, reizende und gefährliche Hautkontakt mit den verschiedensten Materialien, scharfen Blechen, staubigem Eisen, Gummi, Heizöl, fetten und rauen Oberflächen und chemischen Produkten, die die Haut angreifen und die Atemwege zerfressen."
Diese Erfahrungen in der Automobilproduktion beschrieb Robert Linhart 1978 in "L'etabli" [1]. Das Buch des damaligen Maoisten stellt gewissermaßen das französische Pendant zu den Industriereportagen von Günter Wallraff dar [2]. Beide Publikationen machten schonungslos deutlich, dass derartige Verhältnisse in Fabriken nicht spezifisch für das späte 19. Jahrhundert waren, sondern in vielen Wirtschaftsbereichen auch nach 1945 vorherrschten.
Die oft verdrängten menschlichen Kosten der kapitalistischen Produktionsweise von der Hochindustrialisierung bis in die Gegenwart thematisiert auch das Buch von Wolfgang Hien aus einer spezifischen Perspektive. Statt die Realität des Kapitalismus sozialgeschichtlich abzuhandeln, stellt er den Alltag des arbeitenden Menschen als leibliches, leidendes und sterbliches Wesen in den Mittelpunkt. Der Autor begreift seine Studie als "phänomenologisch inspirierte sozialphilosophische Untersuchung der modernen Arbeitswelt [...], die ihr empirisches Material im historischen Kontext verortet und interpretiert" (9). Dieses Vorhaben erfordert einen interdisziplinären Zugriff, vor allem einen Rückgriff auf die mannigfaltigen Bereiche der Arbeitswissenschaften wie der Physiologie, der Medizin und der Psychologie.
Als promovierter Arbeitswissenschaftler und ehemaliger Gewerkschaftssekretär mit einem jahrzehntelangen politischen Engagement ordnet Hien seine Studie in die kritische Arbeitsgeschichte des Kapitalismus ein. Die Ambivalenz des ökonomischen Fortschritts markiert dabei seine Grundprämisse. Die Voraussetzungen wie die Kehrseiten des Reichtums blieben meist unsichtbar: der körperliche Verschleiß und das Leiden der unteren Klassen, deren Dasein geprägt war von schwerer Arbeit. Viele erduldeten ihr Dasein, jedoch begehrten auch viele auf. Durch (Massen-)Streiks und Arbeitskämpfe verbesserten die Lohnabhängigen die Arbeitsbedingungen und setzten Arbeitsschutzmaßnahmen durch. Hiens Studie zeichnet sowohl das Leiden als auch die Widerständigkeit nach. Der Schwerpunkt liegt auf Deutschland, wobei immer wieder die österreichische Situation einbezogen wird. Angeregt haben das Vorhaben Karl Heinz Roth und die Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen. Neben Archivrecherchen, unter anderem in Wien, konnte Hien auf umfangreiche Materialien früherer Forschungsprojekte, etwa zur Bremer Vulkan Werft, zurückgreifen.
Um die Perspektive "von unten" konsequent abzubilden, rekurriert der Autor auf Selbstzeugnisse und Werke der Arbeiterliteratur. Außerdem wertet er die Publikationen der Arbeitsmedizin sowie die offiziellen Veröffentlichungen der Gewerbeaufsicht in Deutschland und Österreich aus. Für die Nachkriegszeit analysiert Hien ferner die umfangreiche "graue Literatur" von Betriebsgruppen und Basisinitiativen, in denen er teilweise selbst mitgewirkt hat.
Der Autor macht aus seiner politischen Vergangenheit und seinen Positionen keinen Hehl. Diese dezidierte Haltung tut dem wissenschaftlichen Wert jedoch keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil ist - Theodor W. Adorno paraphrasierend - darauf zu verweisen, dass das von vielen Wissenschaftlern proklamierte Postulat der Ideologiefreiheit selber ideologisch ist. Wissenschaft spielt sich niemals in einem politischen Vakuum ab. Eine Lektüre des Buches ist besonders auch dann gewinnbringend, wenn man Hiens Annahmen nicht teilt. Ein Erkenntnisfortschritt stellt sich gerade in der Auseinandersetzung mit kontroversen Positionen ein, die sich in der Studie zuhauf finden lassen.
Das Buch ist in zwei große Abschnitte geteilt. Der erste Teil behandelt die Hochindustrialisierung bis 1945, der zweite die Nachkriegszeit. Neben detaillierten Beschreibungen der Bedingungen in der Chemie-, Stahl- und Textilindustrie handelt Hien auch die Genese der Arbeitsideologie ab, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Art Religion gemausert habe. Bereits Martin Luther habe die Arbeit fetischisiert - eine Haltung, die sich in der Mehrheitsströmung der Arbeiterbewegung wiedergefunden habe.
Mit Bezug auf die Biopolitik von Michel Foucault erläutert Hien, wie Arbeitsschutzmaßnahmen und eine generelle Verbesserung der Bedingungen kontinuierlich unterlaufen wurden. Dabei spielten sich Unternehmen, politische Entscheidungsträger, Juristen und Ärzte gegenseitig in die Hände: "Es war eine Mischung aus Radikalliberalismus und Sozialdarwinismus, der gesellschaftlich erzeugte Benachteiligung und Ungerechtigkeit als naturgegeben interpretierte." (70) Nur die Widerständigkeit der Arbeitenden und nicht staatliche Wohltaten oder Einsicht der Unternehmen habe die Situation verändert, wie Hien anhand des großen Bergarbeiterstreiks im Ruhrgebiet 1889 exemplifiziert. Am Beispiel der im frühen 20. Jahrhundert stark wachsenden Gruppe der (weiblichen) Büroangestellten zeigt er außerdem, dass Ausbeutung und unmenschliche Arbeitsverhältnisse sich keineswegs auf die klassischen Industriebereiche beschränkten. Die angeführten Beschreibungen legen davon beredt Zeugnis ab. Die betroffenen Frauen wurden seinerzeit massenhaft als nervenschwach und hysterisch (psycho-)pathologisiert.
Im zweiten Teil zeichnet Hien eine andere Geschichte des sogenannten Wirtschaftswunders nach. Er zeigt die brutale Kehrseite des Fortschritts, sei es im Hinblick auf die jahrzehntelange Verwendung gesundheitsschädlicher Stoffe in der chemischen Industrie oder den Umgang mit Asbest.
Bei aller Deutlichkeit verwahrt sich der Autor dennoch gegen zu eindeutige Dichotomien. Die Lohnarbeiter trugen die unmenschlichen Bedingungen selbst mit, rationalisieren sie aufgrund eines internalisierten (patriarchalen) Arbeitsstolzes und waren nicht selten bedenkenlos bereit, ihre Gesundheit bei entsprechender Bezahlung aufs Spiel zu setzen.
Trotz aller Veränderungsprozesse und des technischen Fortschritts in den vergangenen Jahrzehnten kritisiert Hien die Vorstellung einer schönen neuen Arbeitswelt als illusorisch. Nicht nur hätten prekäre Beschäftigungsverhältnisse in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen, auch die körperliche Arbeit und die gesundheitsgefährdenden Bedingungen seien nicht verschwunden, sondern lediglich verlagert worden. So bauen deutsche Chemieunternehmen seit Jahrzehnten ihre Standorte in Brasilien aus, die Industriebranchen kaufen die notwendigen Rohstoffe in Südafrika, und die Textilunternehmen lassen ihre Produkte in Bangladesch anfertigen: "Es sind immer noch materielle Waren, die mit Blut, Schweiß und Tränen unter meist erbärmlichen Bedingungen produziert werden. Die kapitalistische Entwicklung war, beginnend mit dem Kolonialismus, immer schon global begründet und global orientiert. [...] Die weltweite Proletarisierung schreitet, katalysiert durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, in Riesenschritten voran." (311)
Mit seiner Perspektive auf die Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland und Österreich und einem Ausblick auf die gegenwärtige globale Situation möchte Hien zur Bewusstwerdung beitragen, also im klassischen Sinne aufklären. Er argumentiert, dass sich die sozialen Verwerfungen notwendigerweise auch in den Individuen selbst reproduzieren und zum "Körperverlust, genauer: [zur] Leibvergessenheit" (326) führten. Genau darin erblickt er einen Ansatzpunkt zur Veränderung. Aus dem Verlustgefühl könne der Wille zur Verweigerung und letztlich der Wunsch nach anderen Verhältnissen erwachsen. Hierzu bedürfe es einer neuen Form der Solidarität. Abschließend resümiert Hien deshalb: "Die Vision von 'Gerechtigkeit' ist dann keine, die im Bestehenden nur ein wenig anders verteilen will, sondern eine, in der jeder Mensch seine Individualität, seine Eigenarten, sein Ruhebedürfnis ebenso wie seine besonderen Kräfte und Fähigkeiten entdecken, einbringen und leben kann." (330)
Es ist nicht nötig, Hien in allen Punkten zuzustimmen, um zahlreiche Erkenntnisse aus dem Buch zu ziehen. So radikal seine Forderungen sein mögen, so naheliegend scheint es doch, angesichts der Klimaveränderung und der globalen Pandemie mit ihren noch unabsehbaren Folgen, über die ökonomischen Grundlagen und das gesellschaftliche Zusammenleben nachzudenken. Hierfür ist die Lektüre der Studie sehr anregend. Als kleines Manko lässt sich anführen, dass ein Literaturverzeichnis und ein Index die wissenschaftliche Nutzbarkeit der Studie erhöht hätte. Diese steht aber nicht im Zentrum von Hiens Interesse. Und das ist auch nicht unbedingt nötig.
Anmerkungen:
[1] Robert Linhart: Eingespannt. Erzählung aus dem Innern des Motors, Berlin 1980
[2] Günter Wallraff: Industriereportagen. Als Arbeiter in deutschen Großbetrieben, Reinbek bei Hamburg 1970.
Sebastian Voigt