Adam Tooze: Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn, München: C.H.Beck 2021, 408 S., ISBN 978-3-406-77346-4, EUR 26,95
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Krisen sind ein beliebtes Thema von Historikern. Doch in der Regel handelt es sich dabei um die Krisen der Vergangenheit. Wie verhält sich aber die Geschichtswissenschaft zu den Krisen der Gegenwart, zumal zu einer, die andauert und unser Alltagsleben noch immer mehr oder weniger stark beeinträchtigt? Der mittlerweile an der Columbia University in New York City lehrende britische Wirtschaftshistoriker, Adam Tooze, nimmt sich der Corona-Krise in seinem neuen Buch an. Nicht zum ersten Mal befasst er sich mit einem aktuellen Thema. Er verfasste bereits ein Buch über die Wirtschaftskrise 2008, allerdings mit einem zeitlichen Abstand von einer Dekade. [1] Außerdem äußert er sich regelmäßig in seinem Podcast "Ones&Tooze" zu gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Fragen.
Doch die Corona-Krise stellt eine andere Art der intellektuellen Herausforderung dar. Sie ist allumfassend, sie ist global, sie tangiert(e) die alltäglichen Routinen der Bewohner des gesamten Planeten, sie legte das öffentliche Leben und nahezu die gesamte Weltwirtschaft lahm, sie ist, wie der Autor gleich zu Beginn den Internationalen Weltwährungsfond IWF zitiert, "eine Krise ohne Beispiel". (9) Er interpretiert die Situation außerdem als eine Krise des neoliberalen Zeitalters. Damit markiere sie gewissermaßen das Ende einer Entwicklung, deren Anfang in den 1970er Jahren zu finden sei.
Der Autor behandelt das Jahr zwischen dem öffentlichen Eingeständnis des Ausbruchs des Virus durch den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jingping am 20. Januar 2020 und der Amtseinführung Joe Bidens als amerikanischen Präsidenten. Diese 12 Monate veränderten die Welt grundlegend. Die in diesem Jahr gemachten Erfahrungen fasst Tooze in einem Wort zusammen: "Unvorstellbarkeit". (9) Diese Unvorstellbarkeit erläutert der Autor auf gut 300 Seiten und in vier chronologischen Teilen.
Im ersten Teil behandelt er zunächst die Fortschritte der Medizin im Umgang mit Infektionskrankheiten, um dann den Bogen zum Ausbruch des Coronavirus zu spannen. Die chinesische Regierung habe zunächst versagt, um dann umso drakonischere, präzedenzlose Maßnahmen zu ergreifen. Sie verhängte Lockdowns in Millionenstädten und legte die zweitgrößte Wirtschaft der Welt still. Letztlich kämpfte sie das Virus (vorläufig?) damit nieder und ihre Anstrengungen erscheinen als historischer Triumph im Vergleich zum Versagen des Westens.
Die europäischen und die amerikanischen Regierungen reagierten zunächst unkoordiniert, planlos und unterschätzten die Dramatik der Lage. Erst gut einen Monat nachdem die chinesische Staatsführung ein neuartiges Virus eingestanden hatte und bereits massive Ausbrüche in Südkorea, im Iran und in Italien registriert worden waren, war ihnen bewusst geworden, dass es sich um ein globales Problem handelte. Die Börsen brachen ein und die Finanzmärkte reagierten panisch.
Im März ergriffen die westlichen Regierungen Maßnahmen und auch viele Unternehmen konkrete Vorkehrungen gegen das Virus. Ausgangssperren wurden verhängt, das öffentliche Leben heruntergefahren. Zu diesem Zeitpunkt wütete die Pandemie aber bereits mit voller Wucht in Brasilien, Indien und anderen Teilen der Welt. New York City hatte sich zu einem der Epizentren entwickelt. Weltweit gerieten die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen und die Leichen konnten nicht mehr angemessen aufbewahrt und bestattet werden. Unabhängig von dem Handeln der jeweiligen Regierungen galt: "Im Frühjahr 2020 gab es kein Entrinnen vor der Wucht des Corona-Schocks." (108)
Im zweiten Teil beschreibt der Autor die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise und die politischen Reaktionen. Der Lockdown des öffentlichen Lebens evozierte einen Nachfrageschock und traf zunächst die Dienstleistungsbranchen hart. Der Konsum brach weltweit ein. Da die Lieferketten und die Logistikbranchen ebenfalls stark betroffen waren, nährte der Nachfrage- einen Angebotsschock. Dieser Teufelskreis einer sich verstärkenden Krise war einmalig. Davon blieben auch die Finanzmärkte nicht verschont. Im März 2020 traf sie ein "seismische[s] Beben". (126) Tooze rekonstruiert detailliert die Entscheidungsprozesse in der amerikanischen Notenbank FED und anderen Institutionen, die letztlich mit maximaler Kraft reagierten. Die Zinssenkungen auf null Prozent und die Ausgabe amerikanischer Staatsanleihen machten die FED faktisch zur Zentralbank für die Welt. Mit diesem "Whatever-it-takes"-Ansatz schafften sie die Wende auf den Finanzmärkten hin zur Stabilisierung. Die Amerikaner waren nicht alleine mit ihren Interventionen, auch wenn sie am weitesten gingen. Die Europäische Union und die wichtigsten Schwellenländer legten ebenso massive Hilfsprogramme auf, die zum "spektakulärste[n] Anstieg der Verschuldung [führten], der jemals in Friedenszeiten zu verzeichnen war." (161)
Die Staatsinterventionen riefen massive Verwerfungen auf den Aktienmärkten hervor. Der geradezu wahnwitzige Anstieg der Börsenwerte verschärfte die Ungleichheit in der gesellschaftlichen Reichtumsverteilung deutlich. Wegen dieses offensichtlich diskriminierenden Charakters der Corona-Krise lässt sich nach Tooze auch nicht von einer Wiederkehr des Keynesianismus sprechen, sondern von einem "politischen Regime irgendwo zwischen Frankenstein und Dr. Jekyll und Mr. Hyde." (170)
Die Unruhe auf den Finanzmärkten war 2020 jedoch sekundär im Vergleich zur Krise in der Realwirtschaft, die der dritte Teil des Buches erläutert. Hierauf reagierte die EU nach anfänglichem deutschem Zögern mit einem 750-Milliarden-Euro-Hilfspaket. Mit ausschlaggebend für diese Entscheidung war die gravierende Situation in Italien, das besonders vom Virus getroffen worden war. China, das kontinuierlich an Gewicht und Einfluss in der Weltpolitik gewonnen hatte, kam mittels drastischer Maßnahmen verhältnismäßig schnell durch die Krise. In diese Zeit fiel auch der Wirtschaftskrieg, den Donald Trump gegen China verhängte. Amerika selbst war von einem Kulturkampf zerrissen, den die Ermordung von George Floyd im Mai 2020 und die Black-Lives-Matter-Bewegung noch weiter befeuerten. Die amerikanische Regierung reagierte zunächst erratisch auf das Virus, beschuldigte primär China und leugnete die bestehende Gefahr. Die einzelnen Bundesstaaten handelten sehr unterschiedlich, je nachdem ob sie republikanisch oder demokratisch regiert waren.
Im folgenden Kapitel beschreibt Tooze die Entwicklung des Impfstoffes in rekordverdächtiger Zeit. Trotz der Zerrissenheit gelang es der amerikanischen Regierung, noch das Ruder herumzureißen. Der Kongress verabschiedete ein riesiges Finanzpaket und stabilisierte damit auch die Weltwirtschaft. Allerdings handelte es sich dabei nicht um eine linke Option, die seinerzeit nicht zur Debatte stand. Sowohl in Amerika, in Europa als auch in Großbritannien lief die Diskussion zwischen Rechtspopulisten und zentristischen Politikern. Glücklicherweise setzten sich die Politiker der Mitte durch. Die Amtseinführung von Joe Biden am 20. Januar 2021 zog einen vorläufigen Schlussstrich unter dieses Kapitel. Die immensen Schwierigkeiten auf dem Weg dahin sind allerdings keineswegs verschwunden.
Im Abschlusskapitel fasst Tooze nochmals die zahlreichen aktuellen Herausforderungen zusammen und skizziert die globale wirtschaftliche Konstellation. Die Krise 2020 wertet er als klares Indiz dafür, dass sich etwas grundlegend ändern müsse, wenn sie nicht nur die erste einer unüberschaubaren Abfolge von globalen Katastrophen sein soll: "Die einzige Option, die wir nicht haben, ist die Fortführung des Status quo." (329)
Adam Toozes Buch ist ein Wagnis. Die Darstellung einer noch nicht beendeten Krise muss notwendigerweise lückenhaft bleiben, erfordert viel Interpretation und wird in den kommenden Jahren sicher deutlich erweitert oder modifiziert werden. Kritiker werden dem Autor vorhalten, dass es sich für Historiker nicht gezieme, über die Gegenwart zu schreiben. Dieser Vorwurf ist wohlfeil. Allzu häufig dient er dazu, sich um eine klare Stellungnahme zu drücken und sich der Illusion hinzugeben, Geschichte schwebe gewissermaßen über den Verhältnissen. Dieser Illusion ist Tooze sicher nicht erlegen, wie sein Buch eindrücklich demonstriert.
Anmerkung:
[1] Adam Tooze: Crashed. How a Decade of Financial Crises Changed the World, London 2018.
Sebastian Voigt