Patrick Boucheron: Gebannte Angst. Siena 1338 - Essay über die politische Kraft der Bilder, Berlin / Schmalkalden: Wolff Verlag 2017, 270 S., 8 Farb-, 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-941461-33-8, EUR 14,90
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Das Werk des Historikers Patrick Boucheron behandelt den berühmten Freskenzyklus Allegorie der Guten Regierung und Allegorie der Schlechten Regierung (1338-1339) von Ambrogio Lorenzetti im Sala della Pace im Palazzo Pubblico von Siena [1]. Als klassische Interpretationen gelten diejenigen von Nicolai Rubinstein (1958) [2] und Quentin Skinner (1986). [3] Darüber hinaus gibt es aber auch noch eine Fülle anderer Interpretationen, die, je nach Methodik, diesen Freskenzyklus unterschiedlich deuten oder bestimmte Aspekte betonen. [4] Es stellt sich natürlich die Frage, ob bei dieser Fülle von unterschiedlichen Sichtweisen überhaupt eine Neuinterpretation möglich ist. Jedoch kann man mit Fug und Recht behaupten, dass es sich bei dem "Essay" von Boucheron um die erste wirklich neue Deutung des Zyklus des 21. Jahrhunderts handelt.
Der Autor bezieht sich auf die kunsthistorische Forschung und neuere Arbeiten zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Trecento, wie seine beinahe lückenlose Zusammenstellung der jüngsten Forschungsliteratur beweist (237-261). Andererseits basiert seine Interpretation auch darauf, dass bestimmte Aspekte schon bekannter Tatsachen besonders betont und umgedeutet werden. So wird bei der ersten bekannten Auslegung der Fresken durch den Prediger Bernhardin von Siena (1425) eher beiläufig erwähnt, dass diese Wandbilder allen bekannt seien. Man kann daraus schließen, dass diese Bilder tatsächlich für die Bewohner der Stadt Siena öffentlich zugänglich waren. Ferner wird der Zyklus bei Bernhardin als Darstellung von "Krieg" und "Frieden" bezeichnet, was der heute noch gängigen populären Vorstellung entspricht. Es ist zweifellos ein richtiger Ansatz, dass Boucheron den kurzen Text von Bernhardin nochmals neu analysiert. Mit den Fresken wurde also die Masse der Bevölkerung erreicht und sie befanden sich nicht in einem so abgeschlossenen räumlichen Kontext wie heute.
Kritikpunkte an Boucheron lassen sich nur wenige nennen: Man muss vor allem seiner Vorstellung widersprechen, dass diese Fresken im Laufe der Zeit durch Restaurationen stark verändert worden seien. [5] Zweifellos ist der Zyklus im Laufe der Jahrhunderte mehrmals grundlegend restauriert worden, aber die Änderungen beziehen sich vermutlich auf bestimmte Details, auf die plastischere Durcharbeitung der Figuren und auf die Farben. Was Boucheron nicht in Zweifel zieht, was man aber durchaus in Zweifel ziehen kann, ist ausgerechnet das Motiv der tanzenden Mädchen auf dem Fresko der Guten Regierung. Die Darstellung der Bewegung und die komplizierte, aber dennoch organische Körperhaltung würden eher in die zweite Hälfte des Trecento verweisen. Aber ansonsten kann man feststellen, dass die Figuren und die Perspektive genau dem dritten Jahrzehnt des Trecento und dem Entwicklungsstand der Malerei jener Zeit entsprechen. Die grundlegende Zeichnung der Bilder und die Inschriften sind definitiv aus dieser Zeit. Der Autor selbst deutet die Fresken so, wie sie in dem heutigen Zustand sind. Insofern sind seine Bedenken zur Authentizität des Bildes wohl nur eine rhetorische Figur.
Besonders beeindruckend ist die Beschreibung Boucherons der Allegorie der Schlechten Regierung (101-124), wie sich auch sein Essay durch eine hohe literarische Qualität auszeichnet (siehe auch "Epilog" 211-219). Überzogen scheint allerdings seine Behauptung, dass die Darstellungen auf der Seite der Schlechten Regierung der Realität des 14. Jahrhunderts entsprochen haben (107-108). Die Realität dürfte wohl eher in der Mitte zwischen beiden Visionen einer Stadt gelegen haben. Richtig ist dafür seine Feststellung, dass nur die Allegorie der Guten Regierung in der Moderne angekommen ist und als "Realität" rezipiert wird, so als würde das Gegenstück nicht existieren.
Boucheron fragt hauptsächlich nach dem auslösenden Motiv für die Schöpfung eines derart ungewöhnlichen und einmaligen Werkes. Seine Interpretation beschäftigt sich nicht ausschließlich mit der Ikonografie der "guten" oder "schlechten" Regierungsform. Dieses Thema ist ja offensichtlich. [6] In den bisherigen Interpretationen ging man immer davon aus, dass dieses Fresko ein Zeichen der "Stärke" der Stadtregierung gewesen sei. Der Auftrag sei in einer wirtschaftlichen und kulturellen Blütezeit erfolgt und hätte den Sinn gehabt, die positiven Auswirkungen der Stadtregierung von Siena darzustellen. Das Fresko an der gegenüberliegenden Wand hätte vor den Gefahren der Tyrannis, also der Herrschaft eines Einzelnen, gewarnt. Dies alles wird von Boucheron nicht in Abrede gestellt. Aber er bezweifelt stark, dass die Idee für dieses Werk aus einer Position der Stärke erfolgt sei. Es müssen bereits vor 1338 Anzeichen für eine tiefgreifende Bedrohung der Kommune vorhanden gewesen sein. Die auslösende Motivation für das Fresko sei "Angst" gewesen; man hätte damit versucht, diese Angst zu bannen. Neuere wirtschaftshistorische Untersuchungen weisen darauf hin, dass nicht ausschließlich die Pest von 1348 der Auslöser für den plötzlichen Niedergang der Stadt gewesen ist. Der wirtschaftliche Niedergang kündigte sich schon vorher deutlich an. Die 351 Mitglieder des Großen Rates von Siena wurden am 24. April 1339, also einen Monat vor der wahrscheinlichen Fertigstellung des Freskos im Mai 1339, von der Podestà darüber informiert, dass eine Gruppe von Händlern und Bankleuten einen alarmierenden Bericht über die Kreditkrise der Stadt verfasst hatte (206-207). [7] Vieles deutet also darauf hin, dass sich die Stadt wirtschaftlich übernommen hatte. Darauf weisen auch die Pläne für die völlig überdimensionierte Erweiterung des Domes hin. Hinzu kam natürlich die Angst vor einem politischen Systemwechsel.
Dies wäre also eine Erklärung für den Auftrag der Wandbilder, die heute noch auf den Betrachter eine beunruhigende Wirkung ausüben, wenn man den Zyklus in seiner Gesamtheit betrachtet. Ein derartiges Werk, das voller bildnerischer Innovationen steckt und mit dem fast ohne Vorstufe eine einzigartige, neue politische Ikonografie entwickelt wurde, kann nur aus der Situation einer extremen Bedrohung entstanden sein. Man versuchte, ein neues visuelles Medium zu entwickeln, um für das vorhandene System zu werben. Daher wählte Boucheron für sein Buch auch den Titel "Gebannte Angst". Aber war diese Angst tatsächlich "gebannt"? Und was hat das Werk bewirkt? Wurde der gewünschte Effekt bei der Bevölkerung erreicht?
Möglicherweise war die Pest von 1348 nicht der auslösende Faktor für den Niedergang der Stadt Siena, sondern die Pest hat nur ein System, das bereits vorher in einer deutlichen Schieflage war, vollkommen zusammenstürzen lassen. Auch geht man in der neueren französischen Forschung davon aus, dass die "Pest", wahrscheinlich eine Kombination unterschiedlicher Krankheiten gewesen ist - anders würden sich die Berichte der Chronisten von dem verheerenden Ausmaß der Seuche nicht erklären lassen. Wenn man über den Buchtitel von Boucheron reflektiert, so müsste man diesen wohl ergänzen. Denn die "Angst" wurde ja durch das Fresko nicht gebannt, wie auch das Fresko den Systemwechsel, der nur einige Jahre später tatsächlich kam, nicht verhindern konnte. Bereits 1355 forderte man auf den Straßen von Siena die Herrschaft der Signora, also die Alleinherrschaft eines Einzelnen, um die langanhaltende Krise endlich zu beenden. Die Zeit der politischen Instabilität war jedoch lange nicht zu Ende. Insofern war das Freskenzyklus der Guten und der Schlechten Regierung ein vergeblicher Versuch einer politischen Einflussnahme durch Bilder. So hat diese spezifische Kommunikationsform des Trecento auch keinen direkten Nachfolger gefunden.
Anmerkungen:
[1] Es existieren unterschiedliche Bezeichnungen dieses Freskenzyklus. Hier wurden zwei kurze und zusammenfassende Titel gewählt.
[2] Nicolai Rubinstein: Political Ideas in Sienese Art. The Frescoes by Ambrogio Lorenzetti and Taddeo di Bartolo in the Palazzo Pubblico, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 21 (1958), 179-207.
[3] Quentin Skinner: Ambrogio Lorenzetti. The Artist as Political Philosopher, in: Proceedings of the British Academy 122 (1986), 1-56.
[4] Alois Riklin: Ambrogio Lorenzettis politische Summe, Bern / Wien 1996. Nach dem hier rezensierten Buch erschienen: Klaus Krüger: Politik der Evidenz. Öffentliche Bilder als Bilder der Öffentlichkeit im Trecento, Göttingen 2015; Maria Rosa Dessì: Les spectres du Bon Gouvernement d'Ambrogio Lorenzetti. Artistes, cités communales et seigneurs angevins au Trecento, Paris 2017; Chiara Frugoni: Paradiso vista inferno. Buon governo e tirannide nel Mediovo di Ambrogio Lorenzetti, Bologna 2019.
[5] Zitat Boucheron: "Man muss naiv sein zu glauben, dass man es im Saal der Neun [d.i. Sala della Pace] mit einem Gemälde aus dem 14. Jahrhundert zu tun hat" (35).
[6] Siena als Beispiel einer frühbürgerlichen Republik ist ein beliebter Topos in der Literatur, wobei sich die damalige Regierungsform natürlich schwer mit heutigen Formen der staatlichen Herrschaft vergleichen lässt. Es scheint sich um eine sehr ferne Vorstufe heutiger Demokratien gehandelt zu haben.
[7] Boucheron bezieht sich auf Gabriella Piccinni: "Il sistema senese del credito nella fase di smobilitazione dei suoi banchi internazionali. Politiche comunali, spesa pubblica, propaganda contro l'usura, 1332-1340", in: G. Piccinni (a cura di): Fedeltà ghibellina, affari guelfi. Saggi e riletture intorno alla storia di Siena fra Duecento e Trecento, Bd. 1., Pisa 2008, 209-289.
Boris Röhrl