Chiara Frugoni: Paradiso vista inferno. Buon governo e tirannide nel Mediovo di Ambrogio Lorenzetti, Bologna: il Mulino 2019, 337 S., ISBN 978-88-15-28522-5, EUR 40,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Oliver Ihl: Le premier portrait photographique. Paris 1837, Vulaines sur Seine: Editions du Croquant 2018
Patrick Boucheron: Gebannte Angst. Siena 1338 - Essay über die politische Kraft der Bilder, Berlin / Schmalkalden: Wolff Verlag 2017
Krista Kodres et al. (eds.): A Socialist Realist History? Writing Art History in the Post-War Decades, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019
Der berühmte, im 14. Jahrhundert entstandene Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti im Rathaus von Siena stieß in jüngster Zeit erneut auf starkes Interesse der Forschung. Im Italienischen Buon Governo und Tirannide genannt, wurde der Zyklus im 19. und 20. Jahrhundert als Sinnbild der "Guten Regierung" einer frühbürgerlichen Stadtregierung und als eindringliche Warnung vor der "Tyrannis", also vor der Herrschaft eines Einzelnen, gedeutet. Die "Tyrannis" unterminiere Justiz und Gerechtigkeit. Das Werk sei in einer Blütezeit Sienas entstanden, als die Regierung der Nove (der neun gewählten bürgerlichen Regenten der Stadt) die Macht innehatte und ihr segensreiches Tun allen Schichten der Bevölkerung zugute kam. Bereits 2013 ließ das Buch Conjurer la peur. Sienne, 1338. Essai sur la force politique des images [1] von Patrick Boucheron gewisse Zweifel an dieser gängigen Deutung aufkommen. Das neue Werk von Chiara Frugoni geht nochmals weit über Boucheron hinaus und suggeriert eine neue, überraschende Interpretation.
Frugonis Buch ist logisch stringent aufgebaut und enthält eine Fülle neuer Forschungserkenntnisse: Im 1. Kapitel legt sie die These dar, dass die Vorbilder einiger weiblicher Figuren Skulpturen der römischen Antike gewesen sein könnten. Kapitel 2 und 3 enthalten einen wirtschaftshistorischen und einen politischen Exkurs. Die Kapitel 4 und 5 beschreiben die Ikonografie der dargestellten Personen und allegorischen Figuren. Kapitel 6 geht auf ein Thema ein, das bei der Deutung der Fresken vernachlässigt wurde: Frugoni beschreibt mögliche ikonografische und bildhafte Quellen ab dem Duecento. Die Kapitel 7 und 8 zeigen die große Stärke der Autorin, bestimmte Details der Fresken genau zu beschreiben und die dargestellten Handlungen, Personen und Gegenstände zu erklären.
Kritikpunkte kann man an dem hervorragend und souverän geschriebenen Werk Frugonis nur wenige nennen. Man kann ihre Vermutung bezweifeln, dass einige Frauengestalten der Fresken auf antiken Vorbildern beruhen. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass viele Abbildungen des Werkes eine stark leuchtende Farbigkeit aufweisen. Zwar kann man die Fresken normalerweise nur bei einer stark abgedunkelten Beleuchtung studieren, aber es ist unwahrscheinlich, dass die Farben derart pop-artig leuchten, wie die Reproduktionen des Buches. [2]
Frugoni entwickelt ihre Deutung aus zeitgenössischen historischen Quellen, in denen berichtet wird, dass es ab dem zweiten Jahrzehnt des Trecento in einem verstärkten Ausmaß gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den großen Familien, Aufstände und versuchte Staatsstreiche gab (36-44), so auch 1318, als die Fresken gerade ausgeführt wurden. Nachdem die versuchte Einnahme von Massa Marittima scheiterte, zettelten die zurückkehrenden Krieger zusammen mit Angehörigen der Zunft der Metzger (den carnaioli) sowie der unteren Schichten und bestimmten Patrizierfamilien einen Volksaufstand gegen die Stadtregierung an (38-39). Nur bestimmte Berufsstände der mittleren Schichten (i mezzani, die "Mittleren") konnten an den Wahlen teilnehmen und die Regierungsvertreter stellen. [3]
Auch die Wirtschaftskrise Sienas, welche das auslösende Moment für den langsamen Niedergang der Stadt gewesen ist, wird von Frugoni näher beschrieben. Ab Ende des 13. Jahrhunderts entwickelte sich eine profunde Krise, die im vorübergehenden Zusammenbruch der sienesischen Banken mündete, die früher die Kreditgeber des Papstes und der französischen Souveräne gewesen waren. Nach dem Rückzug (smobilitazione) aus den internationalen Aktivitäten und dem Kollaps der Banken versuchten die reichen Familien der Stadt, in Immobilien und in landwirtschaftlichen Grund zu investieren. Dies wurde aufgrund von kurzfristigen Darlehen und einem Zinssatz von offiziell 10% möglich. In Wirklichkeit betrug dieser tasso di interesse jedoch bis zu 30%. Die gigantische Kreditaufnahme wurde möglich, weil die Kommune die Garantien dafür gab. Teilweise wurde versucht, die Liquidität der Banken zu erhalten, indem die Nove bestimmte lukrative Einnahmequellen für die reichen Familien, die im Bankgeschäft und im Fernhandel tätig waren, bereit stellten (53).
Auffällig ist - und Frugoni weist mehrmals auf diesen Punkt hin - dass im Fresko der "Guten Regierung" gerade die Schichten der Bevölkerung zu sehen sind, die von der Regierung ausgeschlossen waren: die Bauern, die städtische Unterschicht, die kleinen Handwerker und die Adeligen. Bisher hatte man dies so interpretiert, dass nun das "Volk" und die "Gerechtigkeit", die Unterordnung der Interessen des Einzelnen vor den Interessen der Gemeinschaft (d.h. des Staates) die Hauptrolle spielen würden. Aber kann man diese Sicht in der Kenntnis des historischen Hintergrundes heute noch fortführen?
Frugoni entwickelt einen Gedanken, der ungewöhnlich ist, und im Folgenden nur verkürzt dargestellt wird: In Übereinstimmung mit dem Historiker Ernesto Sestan geht sie davon aus, dass Buon Governo und Tirannide nicht zwei unterschiedliche Regierungsformen beschreiben, sondern die Auswirkung einer bestimmten Regierung unabhängig von der Organisation einer bestimmten Herrschaftsform. Die Politik der Nove war nicht auf die Bedürftigen, die unteren Schichten der Bevölkerung und auf die kleinen Händler und Handwerker ausgerichtet. [4] Die Nove unterstützten die obere Klasse, indem sie Bürgschaften gaben und ihr bestimmte lukrative Einnahmequellen verschaffte. Im Gegenzug unterstützen diese Familien die Nove. Die Verlierer waren die unteren Volksschichten, die kleinen Handwerker und Taglöhner. Aber auf dem Fresko des Buon Governo sind genau diese Klassen zu sehen und es wird suggeriert, dass es keine bessere Regierungsform als die der Nove geben könne. Auffällig sind auch die visuellen Drohgebärden dieser Fresken mit zahlreichen Hingerichteten, Toten oder Menschen, die gerade zu Tode verurteilt werden. Kann man also annehmen, dass sich die Nove, nicht als Person, sondern als Gruppe, in eine Signora di fatto verwandelt haben? Waren die Tyrannen selbst die Auftraggeber des Freskos der "guten Regierung"? Dieser Hypothese entspricht ein Spottgedicht von Bindo Bonichi (gest. 1338) über die Stadtregierung Sienas: "Als die mittleren Stände [die Nove] zu Tyrannen wurden, flehte die ganze Stadt Gott an, damit er sie vor den hungrigen und schlimmen Leoparden schützen möge, die die Lilie und den heiligen Johannes [florentinische Münzen] gekostet haben." [5]
Anmerkungen:
[1] Patrick Boucheron: Conjurer la peur. Sienne, 1338. Essai sur la force politique des images, Paris 2013; dt. Übers. Gebannte Angst. Siena 1338. Essay über die politische Kraft der Bilder, Berlin / Schmalkalden 2017. Neue Aspekte über den soziopolitischen Kontext enthält: Mario Ascheri: Ambrogio Lorenzetti e Siena nel suo tempo, Siena 2017.
[2] Es existiert ein Bildband in großem Format mit Farben, die nahe am Original sind, und in dem einige Details sehr gut zu sehen sind: Enrico Castelnuovo (a cura di): Ambrogio Lorenzetti. Il Buon Governo, Mailand 1995.
[3] Auf dem Fresko der "Guten Regierung" sieht man deutlich, dass beispielsweise hochgestellte Juristen und Ärzte am nächsten der allegorischen Figur des grande Veglio, des "großen Alten", d. h. des Staates, stehen.
[4] Frugoni führt als Beispiel die Vertreibung der Armen aus der Stadt im Jahr 1329 an (47-48).
[5] "Quando i mezzan divertano tiranni / prechi Iddio la cittade, che la guardi / dagli affamati e pessimi leopardi / ch'anno assaggiato il Giglio e San Giovanni." (201).
Boris Röhrl