Felix Lüttge: Auf den Spuren des Wals. Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2020, 279 S., ISBN 978-3-8353-3680-3, EUR 28,00
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Auf Spurensuche zu gehen gehört zu den klassischen Annäherungen von Historiker*innen an ihren Forschungsgegenstand. In detektivischer Arbeit durchsuchen sie Archive und Bibliotheken, vermehrt auch nach materiellen Dingen, in der Hoffnung, auf Fragmente eines zeitlichen anderswo zu stoßen. Spurensuche ist aber nicht weniger die Arbeit von Fährtenleser*innen, die den Abdrücken und Geläufen von Tieren nachgehen, um sie aufzuspüren, zu jagen, zu beobachten. Spuren offenbaren sich hier als gegenständlicher Beweis für die Überschneidungen interspezifischer Welten. Beide Arten von Spuren werden in der Dissertationsschrift von Felix Lüttge thematisiert. In seiner medien- und wissenschaftsgeschichtlichen Studie geht er deshalb auch nicht unbedingt direkt den Spuren des Wales nach, vielmehr interessiert er sich dafür, wie die vielfältigen Akteure, die über den Wal sprachen, ihn typifizierten, klassifizierten, vermaßen und jagten, ihn nutzten, um über ihn neue Kartographien zu entwickeln und ein geographisches Verständnis für die Ozeane zu akkumulieren. Er fragt also sowohl nach der Art der Spuren als auch danach, wie diese narrativ eingebettet wurden, sowie danach, was eigentlich passiert, wenn das Wissen die Milieus wechselt, wenn es vom Walfangschiff vor der Küste Neuenglands in europäische Schreibstuben gelangt.
Das Buch ist in sechs Kapitel aufgeteilt. Nach der Einleitung, die auch einen ersten Überblick über die Geschichte des amerikanischen Walfangs bietet, stellt das zweite Kapitel diejenigen vor, die im Mittelpunkt seiner akteurszentrierten Arbeit stehen, nämlich Walfänger, die auch kartographierten und damit gleichsam für eine Neuordnung wissenschaftlichen Wissens sorgen. Als besonders engagierter Rezipient dieses Wissens wird im dritten Kapitel der Seegeograf und Marineoffizier Matthew Fontaine Maury vorgestellt, die Beschreibung der naturhistorischen Forschung des Wales wird im vierten Kapitel mit einer Klassifikationsgeschichte vertieft. Kapitel fünf richtet den Blick auf das Räumliche, das sich für die Kartierung von Mensch-Tier-Beziehungen insgesamt als ein sehr fruchtbarer Zugang gezeigt hat. Das letzte inhaltliche Kapitel sechs behandelt den wissenschaftsgeschichtlichen Stellenwert der Cetelogie.
Insgesamt lässt Lüttge seine Skizzierung des Wissens über die Geografie des Meeres mit jener Autorität beginnen, die hierin über allen Zweifel erhaben zu sein scheint: Jener des Wales. Er folgt hiermit der Einordnung, die Maury selbst vorgeben hatte, um das Expertenwissen der "kundigen" Walfänger zu verfestigen. Es war die Frage nach der Schnelligkeit von Transportwegen zwischen der alten und der neuen Welt, auf die dieses, bewusst als amerikanisch klassifizierte Expertenwissen bereits Ende des 18. Jahrhunderts angewendet wurde und es war die Ausweitung von neuen Jagd- und Fischgründen vom Atlantik in den Süd-Pazifik, die einer Vertiefung kartographischer Genauigkeit bedurfte. Diese pazifische frontier, die Lüttge als Ausweitung amerikanischen Expansionsdranges, aber eben auch als eine Folge medialer Berichterstattungen beschreibt, gingen zugleich mit der Bildung neuen epistemischen Wissens einher. Allerdings, bei allem medial dokumentierten Informationsaustausch, waren hier die Interessenlagen der Akteure, staatlichen, militärischen und wissenschaftlichen auf der einen und jenen der Walfänger auf der anderer Seite, die aus dem Wissen über die Migrationsrouten der Wale vor allem wirtschaftlichen Profit schlagen wollten, durchaus unterschiedlich.
Matthew Fontaine Maurys Interessen jedenfalls waren an der Schnittstelle der Etablierung einer Ozeanographie als "Weltprojekt", der Anerkennung durch die scientific community und der Nutzbarmachung seines Kartenwissens für die politischen Ziele der Südstaaten verortet. Wie sehr dieses Konglomerat divergenter Anliegen Maurys Werk bestimmte, wird detailreich beschrieben, ebenso sein Verfahren, sich die "Aufschreibesysteme" der Walfänger zunutze zu machen, um seinen Karten empirisches Gewicht zu verleihen. Grundlage von Maurys Kartierungen waren Logbücher, die er zentral in den von ihm beaufsichtigten Depots of Charts and Instruments fand, die er systematisch auszuwerten und dann gezielt zu akquirieren begann. Sehr erhellend wird von dem zirkulierenden Wissen geschrieben, das die Logbücher vermittelten, als Fundament einer "kollektiv betriebenen Ozeanographie"(119). Maurys Whale Charts, Karten, die Verbreitung und Verteilung von Walen umrissen, halfen wiederum den Walfängern, die dann ihrerseits willentlich zur Wissensakkumulation beitrugen. Diese Wissensakkumulation fand jedoch nicht nur auf dem Meer, sondern auch in den Orten der (modernen) Naturwissenschaft statt, dem Labor, dem Museum, dem Archiv.
Während sich der erste Teil des Buches vor allem der Kartierung des Lebensraumes der Wale widmet, konzentriert sich der zweite Teil eher auf die Vermessung der Tiere. Aus Lüttges Argumentation lässt sich erschließen, dass das eine eben nicht ohne das andere funktionieren konnte, dass die Physiologie und Ozeanographie zwar am Schreibtisch erblühten, aber auf den Ozeanen geboren wurden. Die im letzten Kapitel des Buches beschriebenen Aquarien, Sehnsuchtsorte des Fin de Siècle, die Milieus einfangen wollten, aber am Wal scheiterten, zeigen auch dies deutlich: Die Debatte darum, ob der Wal nun Säuger oder Fisch sei, wie die Unterarten es zu bestimmen wären und wie man sein Verhalten beschreiben könne, hatte durchaus spatiale Komponenten, die auch mit der Darstellbarkeit der Körper an Land einhergingen. Interessant ist zudem, wie hier die Rezeption cetaceanischen Wissens als Wissenschaft ihren Weg wieder in alte Welt fand. Walwissenschaft war Ergebnis mehrerer historischer Transfers. Sie war aber auch gleichsam Ergebnis von Transformationen des Walkörpers: Wale mussten "Artefakte werden"(195).
Obwohl sich der Autor neben einem reichen Schatz an Quellen aus dem ganzen Fundus kulturgeschichtlicher Theorien bedient, und hier Diskurs-, Praxis- und Zeichentheorien nebeneinander und miteinander liest, verfällt er nie in einen entsprechenden Jargon. Das gekonnte Heranziehen literarischer Texte, allen voran Melvilles Moby Dick, die sich eben auch inspiriert zeigten von den ozeanographischen Erkenntnissen und sie gleichsam wieder mit beeinflussten, zeigt zudem den Gewinn, Wissenschaftsgeschichte medienhistorisch anzugehen. Nicht immer wählt der Autor dafür den geraden Weg der Erzählung, er macht Schleifen, zeichnet Kurven. Dies tut dem Wert dieser Arbeit aber keinen Abbruch, im Gegenteil. Es sind wohl gerade diese kleinen Geschichten, die die vielfachen Interdependenzen der Akteure beleuchten. Sie dürften zudem der Eigenmächtigkeit des tierlichen-ontologischen Gegenstandes geschuldet sein. Auch wenn das Buch nicht explizit der Tiergeschichte folgt, so illustriert es doch eindrücklich, wie mit dem Zusammenlesen unterschiedlichen Quellenmaterials ein erstaunlich dichtes Bild von der Wirkmächtigkeit des Wales entsteht, an der die Zeitgenossen selbst nie den geringsten Zweifel hatten. Wie sehr der Wal hier durch seine räumliche Relation zu den im Buch beschriebenen Akteuren eigentlich zu unterschiedlichen Walen wurde, zeigt das kurze Schlusskapitel eines insgesamt sehr anregenden Buches, das nicht nur für Wissenschafts-, sondern auch für Tierhistoriker*innen neue Taxonomien anbietet, die eben auch vom Wal her gedacht wurden.
Mieke Roscher