Winfried Speitkamp (Hg.): Gewaltgemeinschaften in der Geschichte. Entstehung, Kohäsionskraft und Zerfall, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 276 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30116-6, EUR 60,00
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In den Jahren von 2009 bis 2015 bzw. 2017 sind im Rahmen der DFG-Forschergruppe "Gewaltgemeinschaften" zahlreiche einschlägige Arbeiten entstanden, neben Qualifikationsschriften auch Sammelbände. [1] Dazu gehört auch der vorliegende Band. Er stellt in resümierender Weise die Arbeit der Forschergruppe vor, die vor allem historisch und soziologisch geprägt war. Kennzeichnend ist die kollaborative Arbeitsweise, derzufolge die meisten der neun Beiträge von einem zwei-, drei- oder vierköpfigen Autorenkollektiv erarbeitet wurden. Dabei wurden die Ergebnisse von Einzelstudien in geraffter Form zusammengeführt. Angesichts eines Forschungsfeldes, das sich zeitlich von der Spätantike bis in die Gegenwart erstreckt und geografisch verschiedene Räume in Europa und Afrika abdeckt, wirkt der Band fast naturgemäß wenig kohärent und disparat.
Um so bedeutsamer ist der einleitende Beitrag von Winfried Speitkamp, der verschiedene Deutungskontexte für Gewaltgemeinschaften auffächert (11-39). Dabei orientiert sich Speitkamp vor allem an den theoretischen Ansätzen Trutz von Trothas, der auch ungeachtet schier unerklärlich scheinender Gewaltexzesse das Ziel verfolgte, die "Logik der Gewalt" zu verstehen (8 u. öfter). Mit daraus abgeleiteten Interpretationsangeboten lassen sich die folgenden Aufsätze auch jenseits ihres speziellen historischen Kontextes einordnen.
Ein zentraler Aspekt der Gewaltgemeinschaften ist ihr Verhältnis zu 'staatlichen' Ordnungen. Vielfach entstanden sie aus einer Ordnungskrise heraus. Dies reflektieren mittelalterliche literarische Zeugnisse, wenn etwa im "Prosalancelot" mit der Wandlung der Artusgesellschaft zur Gewaltgemeinschaft auch die Ordnungskrise manifest wird (Dietl et al., 67-82). Ähnlich etablierten sich die Gewaltgemeinschaften der Morlaken und Haiduken im Dalmatien des 17. Jahrhunderts, die im Grenzraum zwischen venezianischem und osmanischem Einflussgebiet agierten (Helmedach / Koller, 139-169). Sehr gelungen ist der Überblick über die Gewaltgemeinschaften vor allem der Kosaken in der Ukraine im 17./18. Jahrhundert, die sich in einem mächtepolitischen Vakuum zwischen den Ordnungsmächten der Hohen Pforte, des Zarenreichs und Polen-Litauens etablieren und durch Sklavenhandel und Beutezüge stabilisieren konnten. Erhellend ist der ökonomische Kontext des osteuropäischen Großraums, insofern hier der Sklaven- und Viehhandel, aber auch der Söldnermarkt zentrale Faktoren für diese Gewaltgemeinschaft darstellten (Bömelburg et al., 101-138). Neben diesen Beispielen für Gewaltgemeinschaften als Indizien für eine "Ordnungsunsicherheit und Ordnungskonkurrrenz" (sc. zum Staat, so Speitkamp, 38) gab es aber auch solche, die ungeachtet ihres Spannungsverhältnisses zur staatlichen Ordnung letztlich "Vorbereitungsarbeit zur Durchdringung regionaler Räume durch den Staat" leisteten (Haslinger et al., 253).
Verschiedene Aspekte in den Aufsätzen beziehen sich auf die Kohärenz der Gewaltgemeinschaften. Für die spätantiken Goten spielten ihre Waffen eine große Rolle, wobei es im Rahmen einer Übernahme des Waffen- und Ausrüstungsarsenals der Römer zu einer gewissen gotischen Akkulturation an den römischen Feind kam (Wiemer / Berndt, 41-66). Die konstituierende Rolle von (distinktem) religiösen Verhalten für die Begründung von Gewaltgemeinschaften, wobei eine stärkere Kohärenz auch noch durch einen charismatischen Führer erreicht wurde, zeigt ein Beispiel aus dem südwestlichen Afrika des 19. Jahrhunderts (Chr. Hardung, 209-232). Mit ihrer Studie zu urbanen Gewaltgemeinschaften in Belfast, Berlin und Barcelona in der Zwischenkriegszeit gehen Lenger / Schellenberger (255-274) deren innerer Struktur nach, verweisen etwa auf entsprechende Maskulinitätsvorstellungen, die Polizei als den gemeinsamen Gegner, die Verbindung zu gewöhnlichen kriminellen Gruppen sowie eine Substruktur, in der interne kleinere Gruppen mit einzelnen Führungspersönlichkeiten (auch) die Gewaltdynamik bestimmten. Dem Thema der Gewalteskalation unter "berufsmäßigen Gewalttätern", also Söldnern, widmen sich Batelka et al. (83-100). Sie fächern dabei verschiedene Faktoren für die Entfesselung und Einhegung von Gewaltexzessen auf, sehen darin aber ohnehin ein Konstituens des Kriegs. Allerdings ist hier nicht immer präzise dargestellt, inwieweit Exzesse Indizien für eine gestörte oder gar fehlende staatliche Ordnung waren oder der Konstitution der Gewaltgemeinschaft selbst zugute kommen sollten; damit bleibt auch unklar, ob Bauern, andere oder die eigene Gewaltgemeinschaft Adressat dieser Exzesse waren.
Wie sehr sich Gewalt - auch exzessive! - erlernen und auf diese Weise Gewaltgemeinschaften schaffen und fortsetzen ließ, zeigen Beispiele aus dem ostafrikanischen Raum im 19./20. Jahrhundert (Reif et al., 171-207). Gewaltwissen wurde auch im Rahmen des Kolonialismus angepasst und verwestlicht, sodass "Experten der Gewalt" (188) erzogen wurden, deren Gewaltpotential abrufbereit war. Die hier aufscheinende Thematik der Tradition und des Fortlebens von Gewalterfahrung durchzieht auch andere Beiträge. So entwickelten sich paramilitärische Strukturen nach dem Ersten Weltkrieg, die sehr von ihrer Kriegserfahrung im Baltikum und in Oberschlesien zehrten und darauf gründend einen starken Willen zum Aktionismus sowie eine extreme Gewaltbereitschaft an den Tag legten (Haslinger et al., 233-254). Weniger als Tradition, aber doch als Vorbild wirkten die Erfolge der Morlaken und Haiduken, insofern dadurch das Zurückdrängen der Osmanen möglich schien (Helmedach/Koller, 169); inwieweit hier auch schon ethnische Säuberungen späterer Zeiten präfiguriert wurden (ebd. 168), sei dahingestellt.
Die Beiträge sprechen über die genannten Punkte hinaus noch weitergehende Aspekte an, die auch über den eigenen, engeren historischen Kontext hinaus anregend sein können. Dies zeigen nicht zuletzt zahlreiche Begrifflichkeiten, die keineswegs nur im Analyserahmen des jeweiligen Aufsatzes, sondern ebenso darüber hinaus die Forschung zu stimulieren vermögen. Erwähnt seien hier Begriffe wie Gewaltmarkt (104 u.ö.), Gewaltunternehmer (131 u.ö.), charismatische Gewaltgemeinschaften (209) oder Gewaltnetzwerker (251). Manche Termini sind aufgrund der sehr kondensierten Darstellung nicht immer wirklich hinreichend definitorisch eingeführt, erscheinen beinahe wie hingeworfene Schlagwörter. Man wird auch deswegen auf die zugrundeliegenden ausführlichen Studien zurückgreifen müssen, für die der vorliegende Band hinweisenden und in jedem Fall auch empfehlenden Charakter hat.
Anmerkung:
[1] Vgl. beispielhaft Michael Zerjadtke: Rezension von: Horst Carl / Hans-Jürgen Bömelburg (Hgg.): Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit, Paderborn 2011, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: http://www.sehepunkte.de/2014/02/20262.html.
Michael Kaiser