Yana Milev: Das Treuhand-Trauma. Die Spätfolgen der Übernahme, Berlin: Das Neue Berlin 2020, 287 S., ISBN 978-3-360-01359-0, EUR 18,00
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Marcus Böick: Die Treuhand. Idee - Praxis - Erfahrung. 1990-1994, Göttingen: Wallstein 2018
Klemens Kaps: Ungleiche Entwicklung in Zentraleuropa. Galizien zwischen überregionaler Verflechtung und imperialer Politik (1772-1914), Wien: Böhlau 2015
Max Trecker: Neue Unternehmer sucht das Land. Die Genese des ostdeutschen Mittelstands nach der Wiedervereinigung, Berlin: Ch. Links Verlag 2022
Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2014
Christian Rau: Die verhandelte "Wende". Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik, Berlin: Ch. Links Verlag 2022
Manfred Rasch / Herbert Nicolaus (Hgg.): Zum Transformationsprozess der DDR-Stahlindustrie zwischen Plan- und Marktwirtschaft, Essen: Klartext 2016
Detlef Siegfried: Bogensee. Weltrevolution in der DDR 1961-1989, Göttingen: Wallstein 2021
Anke Kaprol-Gebhardt: Geben oder Nehmen. Zwei Jahrzehnte Rückübertragungsverfahren von Immobilien im Prozess der deutschen Wiedervereinigung am Beispiel der Region Berlin-Brandenburg, Berlin: BeBra Verlag 2018
Im Rahmen der öffentlichen Debatten rund um die Folgen des Mauerfalls und der deutschen Einheit rückt seit einigen Jahren die Treuhandanstalt wieder verstärkt in den Fokus medialer, aber auch wissenschaftlicher Debatten. Der Bochumer Historiker Marcus Böick bezeichnete die Treuhand 2017 als "Bad Bank" der ostdeutschen Erinnerungskultur, also als eine Einrichtung, in die soziokulturelle beziehungsweise sozioökonomische Abstiegs-, Entfremdungs- und Zurücksetzungserfahrungen "ausgelagert" wurden [1]. Das von Böick ausgemachte Deutungsmuster findet sich in einer Vielzahl von Veröffentlichungen wieder, die in der Vergangenheit mit teils reißerischen Titeln die Tätigkeit der Privatisierungsbehörde skandalisierten. Der Strategie einer möglichst Aufmerksamkeit erzeugenden Titelwahl, welche die Negativerfahrungen des ostdeutschen Transformationsprozesses insbesondere mit dem Wirken der Treuhandanstalt verknüpft, verfolgt auch die Soziologin Yana Milev mit ihrer vorliegenden Studie.
Die Autorin zeigt bereits mit dem Klappentext ihre Intention: "Das Grauen hatte einen Namen: TREUHAND". Wenngleich Milev - in Leipzig geboren und seit 2009 Research Associate am Seminar für Soziologie (SfS) der Universität St. Gallen - als Beleg ihrer vermeintlichen Unvoreingenommenheit zu Beginn ihre biographische Prägung als Opfer der SED-Diktatur betont, wird schnell deutlich, dass das Hauptanliegen des Buches aus einer grundlegenden Kritik am Prozess der Wiedervereinigung besteht, den sie als einen "Modellfall der neoliberalen Annexion" (91) betrachtet.
Die Autorin unterteilt ihr Buch in drei Abschnitte. Der als "Anschluss" bezeichnete erste Teil behandelt den Zeitraum von der friedlichen Revolution (ein Begriff, den die Autorin ablehnt) über die Wiedervereinigung hinaus und beleuchtet dabei die Rolle westdeutscher Politiker, Institutionen und Medien, denen Milev einen "Hybris-Komplex der Delegitimierung der DDR" (27) zuschreibt. Damit kritisiert sie eine von Bonn vermeintlich gesteuerte Überwältigung und Abwertung, also eine "sozialpsychologische Indoktrination" (37), die alternative Entwicklungen zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bewusst verhindert habe.
Kernthese des zweiten Teils ("Umbau") ist eine westdeutsche Expansions- und Vollstreckungsstrategie, deren willfährige Agentin die eigentlich titelgebende Treuhandanstalt war. Deren Aufbau, Funktion und Tätigkeit behandelt die Autorin nur auf wenigen Seiten und bietet stattdessen eine insgesamt 80 Seiten lange Auflistung von durch die Treuhand liquidierten volkseigenen Betrieben und Produktionsgenossenschaften sowie Kombinaten.
Unter dem Titel "Exil" beschreibt Milev drittens die Folgen der westdeutschen Annexionspolitik - eine äußere und innere Emigration der ostdeutschen Bevölkerung. Den Dagebliebenen bescheinigt sie dabei, in einem "Entwicklungsland" zu leben, "einer Zone der Armut und Isolation" (238). In Ostdeutschland verschwanden aus Sicht der Autorin sämtliche ökonomische, kulturelle und soziale Institutionen. In der Folge lastet sie der Transformation an, eine "vereinigungsbedingte Kulturkatastrophe" (249) ausgelöst zu haben, die auf einem "strukturellen Kolonialismus" (252) basierte und durch die "Suprematie einer marktliberalen Demokratie" letztlich zu erheblichen Demokratiedefekten und einem "Rechtsruck" in Ostdeutschland geführt haben (258).
Mit dem "Treuhand-Trauma" setzt Yana Milev einer in der Öffentlichkeit als "Glücksfall" oder "Erfolgsgeschichte" beschriebenen Deutung der Wiedervereinigung einen Negativentwurf entgegen, der das andere Ende des Spektrums der Deutungsparadigmen vertritt. Wenngleich die Autorin damit durchaus berechtigte Kritik an Fehlern und strukturellen Defiziten des Vereinigungsprozesses - etwa im Bereich der Wissenschaftstransformation und des Elitentransfers in Politik und Verwaltung - artikuliert, gelingt ihr keine differenzierte Darstellung. Für Milev agieren die Westdeutschen als Kolonialisten und Plattmacher, während sie den Ostdeutschen ein kollektives Opfernarrativ zuschreibt. Zugleich enthält das vorliegende Buch offensichtliche Fehler und Ungenauigkeiten. So argumentiert Milev, dass der Treuhand-Bestand 250 Regalkilometer an Akten umfasse, während das Schriftgut des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR nur 111 Kilometer ausmache, eine Tatsache, die "Bände sprechen" würde (137). Tatsächlich handelt es sich bei dem Treuhandaktenbestand (B 412) nach Auskunft des Bundearchivs um 45 Regalkilometer Behördenschriftgut [2]. Abgesehen davon stellt sich die Frage, welche qualitative Aussage in einem solchen Vergleich liegen soll.
Die Auflistung von liquidierten Betrieben und Kombinaten enthält zudem einige Betriebe, die keinesfalls von der Treuhand abgewickelt, sondern privatisiert wurden. Dies betrifft unter anderem sämtliche Bezirksenergiekombinate, aber auch das Walzwerk Finow oder das Chemiefaserwerk Premnitz. Weitere Ungenauigkeiten sind allein auf der Basis einer nur kurz erfolgten Stichprobe nicht auszuschließen.
Problematisch sind darüber hinaus von Milev genutzte Begrifflichkeiten. Während sie einerseits eine Gleichsetzung der SED- mit der NS-Diktatur in der bundesdeutschen Geschichtsdeutung beklagt, bezeichnet sie den Beitrittsbeschluss der DDR-Volkskammer zur Bundesrepublik als "eine Art Ermächtigungsgesetz" (26). Der Einigungsvertrag sei zudem ein "Enteignungsvertrag" gewesen (257).
Der stark wertende Charakter der Veröffentlichung erschwert das Lesen und damit eine differenzierte Auseinandersetzung mit den negativen Folgen einer in kurzer Zeit umgesetzten sozialen, ökonomischen und kulturellen Transformation Ostdeutschlands im wiedervereinigten Deutschland. Letztlich gelingt Yana Milev damit nicht mehr als ein jahrestagbezogenes Bedienen von Befindlichkeiten einer bestimmten generationell und räumlich verorteten Klientel, jedenfalls kein substanzieller Beitrag zu aktuellen Forschungsfragen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Marcus Böick / Constantin Goschler: Studie zur Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt, Bochum 2017, 14 und 104.
[2] Vgl. Die Überlieferung der Treuhandanstalt beim Bundesarchiv. Pressemitteilung des Bundesarchivs, 9.9.2020, https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Pressemitteilungen/treuhand-projekt.html (letzter Aufruf 22.10.2020).
Wolf-Rüdiger Knoll