Ulrich Pfister / Jan-Otmar Hesse / Mark Spoerer / Nikolaus Wolf (Hgg.): Deutschland 1871. Die Nationalstaatsbildung und der Weg in die moderne Wirtschaft (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften im 21. Jahrhundert; 6), Tübingen: Mohr Siebeck 2021, IX + 454 S., ISBN 978-3-16-159644-5, EUR 99,00
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Pünktlich zum 150-jährigen Jubiläum der deutschen Nationalstaatsgründung meldet sich die Wirtschaftsgeschichte mit einem hochkarätigen Sammelband zu Wort. Er geht der Frage nach, welchen Einfluss die Reichsgründung auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland hatte. Wer meint, dieses Thema sei längst erforscht, täuscht sich. Zwar sind in den vergangenen Jahren neue Studien zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs erschienen. Jedoch hat die Frage, ob das Jahr 1871 einen Strukturbruch darstellt, bislang kaum Beachtung gefunden. Gerade für die deutsche Geschichte, die im 19.und 20. Jahrhundert eine Vielzahl von politischen Systembrüchen und territorialen Veränderungen erfahren hat, ist diese Frage höchst relevant. Zuletzt hat sie mit der Wiedervereinigung von 1990 für Kontroversen gesorgt, da die wirtschaftlichen Effekte solcher Transformationen nur sehr schwer vorherzusehen sind. Bis heute gibt es weder in der Forschung noch in der Politik einen Konsens, wie man solche Umbrüche gestalten soll. Der vorliegende Band untersucht daher ein "natürliches Experiment", das über die deutsche Nationalstaatsgründung von 1871 hinaus erheblichen Erkenntnisgewinn verspricht.
Wie aber kann man die Effekte des "Schocks" von 1871 empirisch sauber messen? Auch wenn sich die Datenqualität seit den ersten Zeitreihenschätzungen von Walter Hoffmann aus den 1960er Jahren erheblich verbessert hat, gibt es im Vergleich zu anderen Ländern, die eine stärkere politisch-territoriale Kontinuität aufweisen, für Deutschland erhebliche Defizite. Doch selbst mit sehr guten Daten stellen sich methodische Herausforderungen. Um Kausalitäten zwischen Reichsgründung und wirtschaftlicher Entwicklung zu bestimmen, müsste man entweder kontrafaktisch argumentieren (wie hätte sich die Wirtschaft ohne nationale Einigung entwickelt?) oder Deutschland mit anderen Ländern vergleichen. Beides ist empirisch recht aufwändig und kann im Rahmen einer ersten Bestandsaufnahme nicht umfassend erwartet werden. Wie die Herausgeber zurecht ausführen, handelte es sich bei der Nationsbildung um einen vielschichtigen und langen Transformationsprozess, der sich über Jahrzehnte hinzog und auch schon vor 1871 eingesetzt hatte. Es war daher eine gute Idee, einzelne wirtschaftliche Aspekte durch ausgewiesene Autorinnen und Autoren zu untersuchen, um auf dieser Grundlage das Verhältnis von nationaler Integration, politischem Wandel und wirtschaftlicher Entwicklung zu bestimmen.
Überzeugend unterscheiden die Herausgeber zwischen vier "Wirkungskanälen", über welche eine wirtschaftliche Transformation erfolgen kann: politische Identitätsbildung, Marktintegration, Staatsverdichtung und verbesserte Institutionen. Die insgesamt 19 Beiträge untersuchen diese Wirkungskanäle aus unterschiedlichen Perspektiven. Der erste Teil des Bandes beleuchtet die übergreifenden politischen Strukturen und Prozesse der Nationalstaatsbildung. Felix Kersting und Nikolaus Wolf betonen die wirtschaftliche Funktionalität von nationaler Identitätsbildung, sehen diese allerdings eher als Ergebnis langfristiger Veränderungen, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichen. Diese These ist nicht neu, innovativ ist hingegen die hier vorgenommene wirtschaftshistorische (quantitative) Analyse von Identitätsbildung. Alfred Reckendrees untersucht die zwischenstaatliche Kooperation seit der Gründung des Zollvereins und betont die Bedeutung informeller Institutionen, die häufig wichtiger waren als formalisierte rechtlich-politische Zusammenarbeit. Dass hierbei zunehmend der Deutsche Bund (und nicht der Zollverein) eine tragende Rolle spielte, hatte mit den machtpolitischen Ansprüchen Preußens zu tun, die eine konstruktive Zusammenarbeit im Zollverein immer schwieriger machten. Gerold Ambrosius erkennt für die Zeit nach 1871 durchaus einen tiefgreifenden Wandel, da die föderale Struktur des Reiches zwar nicht aufgegeben, aber doch stärker aufeinander abgestimmt wurde, was nun auch eine übergreifende Wirtschaftspolitik ermöglichte.
Der zweite Teil des Bandes nimmt einzelne Felder des institutionellen Wandels in den Blick, darunter das Steuerregime (Mark Spoerer), Eisenbahn, Post und Telegraphie (Sebastian Braun und Jan-Otmar Hesse), Statistikwesen (Michael C. Schneider), Währungs- und Geldsystem (Matthias Morys), Patentrecht (Alexander Donges und Jochen Streb) sowie das Finanzsystem (Carsten Burhop und Felix Selgert). Die empirischen Befunde sind erwartungsgemäß nicht eindeutig. Fast alle Beiträge relativieren die Zäsur des Jahres 1871, da sich der institutionelle Wandel über mehrere Jahrzehnte hinweg vollzog. Die föderale Struktur prägte viele Bereiche wie das Steuersystem weiterhin, und wo eine Zentralisierung erfolgte, wie im Transport- und Kommunikationswesen, waren die Effekte nicht zwingend positiv. In der Praxis hatten staatliche Regulierungen, wie das Patenrecht zeigt, oft eine ambivalente Wirkung. So wurde die lange Zeit bestehende rechtliche Diskriminierung ausländischer Erfinder durch das Reichspatentgesetz zwar abgeschafft, gleichzeitig gewannen aber reichsweite Absprachen (Patentpools, Blockadepatente) an Bedeutung und behinderten den technologischen Wettbewerb. Ulrich Pfister konstatiert für die Zeit zwischen 1860 und 1880 den Übergang von einem "postmalthusianischen" zu einem "modernen" Wachstumsregime, bei dem die Wirtschaft über den demographischen Trend hinaus expandierte. Doch kamen in dieser Phase zugleich andere Faktoren zum Tragen, etwa der technologische Fortschritt oder die zunehmende Globalisierung.
Im dritten Teil werden genau diese strukturellen Veränderungen während des Kaiserreichs thematisiert. Wolf-Fabian Hungerland und Markus Lampe untersuchen den Außenhandel und konstatieren, dass die protektionistische Wende um 1880 zwar durchaus eine Zäsur markierte, die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung jedoch nicht unterbrach. Deutschland näherte sich eher dem Protektionsniveau anderer europäischer Länder an. Zugleich spielte der intra-industrielle Handel eine zunehmend wichtigere Rolle, während das klassische Muster der komparativen Spezialisierung zwischen landreichen Agrarexportstaaten der Neuen Welt und kapital- und arbeitsintensiven Volkswirtschaften in der Alten Welt an Bedeutung verlor. Die Autoren weisen zurecht auf eine strukturelle Veränderung des Globalisierungsmusters hin, die allerdings eher in die Mitte des Kaiserreichs fällt als in die Gründungsphase. Auch die anderen Beiträge zeigen, dass klassische Interpretationsmodelle für das Kaiserreich differenziert werden müssen. Eva-Maria Roelevink und Dieter Ziegler argumentieren, dass Verbände und Kartelle durchaus mit einer wettbewerblichen Marktordnung einhergingen. Das alte Bild vom Organisierten Kapitalismus lehnen sie daher ab. Tobias A. Jopp und Jochen Streb betonen die erheblichen Wohlfahrtseffekte der Bismarck'schen Sozialreformen, da ein großer Teil der Bevölkerung keine ausreichende Sparleistung erbrachte, um Lebensrisiken abzusichern. Zugleich unterstreichen sie die demographischen Effekte - rückläufige Geburten- und Sterberaten, die langfristig auch für die Finanzierungsprobleme der Altersversorgung verantwortlich waren. In ähnlicher Weise hatte auch der Ausbau des Bildungssystems Auswirkungen auf die demographische Transition, wie Sascha O. Becker, Francesco Cinnirella und Erik Hornung darlegen. Angesichts steigender Bildungsrente reduzierten viele Eltern die Zahl der Nachkommen, investierten aber mehr in deren Ausbildung. Thilo Albers und Charlotte Bartels konstatieren für die Zeit zwischen 1870 und 1900 einen starken Anstieg der Vermögens- und Einkommensungleichheit, ausgelöst durch Industrialisierung, globalen Wettbewerb und ein erhebliches Überangebot an Arbeitskräften. Nach der Jahrhundertwende stagnierte dieser Trend auf hohem Niveau - hier machten sich u.a. Sozialpolitik und eine wachsende Verhandlungsmacht der Gewerkschaften bemerkbar.
Der vierte Abschnitt betrachtet die Entwicklung des Kaiserreichs im internationalen Vergleich. Der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands stand im Kontrast zum relativen schwachen Wachstum anderer europäischer Volkswirtschaften. Im britischen Fall ist die These des "Versagens" von politischen und wirtschaftlichen Eliten weitgehend widerlegt worden, wie Nicolas Crafts darlegt, wenngleich es durchaus Defizite im britischen Innovationssystem gab, die gerade im Vergleich mit Deutschland besonders hervorstechen. Insgesamt sieht Crafts jedoch keinen Zusammenhang zwischen dem starken, exportorientierten Wachstum Deutschlands und dem deutlich geringeren Wachstum in Großbritannien. Auch im Falle Österreich-Ungarns war das Problem nicht die Konkurrenz mit dem wirtschaftlich übermächtigen Deutschland. Wie Max-Stephan Schulze zeigt, verzeichnete die Habsburg-Monarchie ein beachtliches Produktivitätswachstum, litt jedoch unter der Marktferne und konnte kaum Skaleneffekte nutzen. Interessante Rückschlüsse ergeben sich auch aus dem Vergleich Deutschlands mit Frankreich und Italien. Jean-Pierre Dormois untersucht die Protektionsregime und sieht in der deutschen und französischen Schutzzollpolitik starke Ähnlichkeiten, in beiden Ländern waren innenpolitische Gründe ausschlaggebend für die protektionistische Wende. Im Falle Italiens argumentiert Giovanni Federico, dass die nationale Einigung wahrscheinlich einen positiven Effekt auf das Wirtschaftswachstum hatte, das sich allerdings erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts deutlich beschleunigte. Federico führt dies allerdings weniger auf die Folgen nationaler Marktintegration zurück - der inneritalienische Handel blieb bescheiden - sondern in erster Linie auf den politisch-institutionellen Wandel.
Wie lassen sich die Ergebnisse dieses wichtigen und sorgfältig zusammengestellten Sammelbandes resümieren? Erstens stellt das Jahr 1871 keinen Strukturbruch dar, sondern fügt sich in einen langfristigen Transformationsprozess ein. Dies ist sicher ein Unterschied zur Wiedervereinigung von 1990, die niemand erwartet hatte. Zweitens waren die Wachstums- und Wohlfahrtseffekte des institutionellen Wandels in der Gesamtheit positiv, wenngleich die kausalen Wirkungen und genauen Effekte schwer zu bestimmen sind. Hier sind weitere empirische Forschungen erforderlich. Drittens zeigt dieser Band, dass das Bild vom deutschen Sonderweg aus wirtschaftshistorischer Sicht endgültig aufgegeben werden muss. Gerade der Vergleich mit anderen europäischen Ländern verspricht ein erhebliches Erkenntnispotential, das die wirtschaftshistorische Forschung zum Kaiserreich stärker nutzen sollte.
Alexander Nützenadel