Christofer Herrmann: Der Hochmeisterpalast auf der Marienburg. Konzeption, Bau und Nutzung der modernsten europäischen Fürstenresidenz um 1400 (= Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege; 17), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2019, 600 S., 557 Farb-, 81 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0813-5, EUR 89,00
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Wie kaum ein anderes Flaggschiff der europäischen Architekturgeschichte bedurfte der Marienburger Hochmeisterpalast einer Baumonografie. Hier, in der am westpreußischen Weichselmündungsarm, der Nogat, gelegenen Marienburg (polnisch: Malbork) residierten zwischen 1331 und 1457 die Oberhäupter des Deutschen Ordens mit einem Hofstaat von über 100 Personen. Der heutige Bau, der einen Teil des sogenannten Mittelschlosses innerhalb eines größeren Ensembles der Deutschordensburg bildet, wurde mit der Hinzunahme eines Vorgängerbaus in den Jahren 1380-1396 errichtet und zählte damals, wie Herrmann es auf den Punkt bringt, "zu den herausragenden, modernsten und stilistisch eigenwilligsten Bauten seiner Art in Europa" (bereits in der Ankündigung des Buches auf der Internetseite des Verlags). Er verband die Funktionen der Repräsentation (als Ort der Verhandlungen, Ständetage, Schiedsgerichte, Ratssitzungen und Audienzen), der Verwaltung (hier hatten der Marienburger Tressler sowie zahlreiche Archivare und Schreiber ihre Arbeitsräume) und schließlich des privaten Domizils des Hochmeisters des Ordens.
Dürftig präsentiert sich die bisherige Literaturlage. Den vor Ort tätigen Forschern - deutscherseits Conrad Steinbrecht und Bernhard Schmid, polnischerseits Maciej Kilarski, Kazimierz Pospieszny und Bernhard Jesionowski - gelang es nicht, eine Gesamtdarstellung des Baus zu verfassen; sie begnügten sich mit einer Reihe durchaus wertvoller Aufsätze zu ausgewählten Einzelaspekten des Baus; die einzige, von Karl Heinz Clasen verfasste Monografie, ist heute arg überholt. [1]
Die Defizite der bisherigen Forschungslage gleicht nun die Arbeit des gebürtigen Rheinländers Christofer Herrmann aus. Die Eignung des Kunsthistorikers und Bauforschers in einem steht außer Frage; seine Vertrautheit mit der Materie bewies er bereits in etlichen Schriften, allen voran in der Habilitationsschrift zur mittelalterlichen Architektur Preußens. [2] So konnte er seit 2015 die Leitung eines Forschungsprojekts zum Hochmeisterpalast auf der Marienburg an der Technischen Universität Berlin (Fachgebiet Bau- und Stadtbaugeschichte) übernehmen, dessen Ergebnis nun vor uns liegt.
Der Frage nach der architektonischen Genese, Datierung, Zuschreibung und den Funktionen des Baus nähert sich Herrmann, der, wie er selbst schreibt, "streng empirisch und faktenorientiert" (18) arbeitet, in mehreren Schritten heran - beginnend mit dem ersten Bau der Hochmeisterresidenz aus der Ära Luther von Braunschweigs (1331-1335), die er aus den spärlichen Überresten und Archivalien zu rekonstruieren versucht (40-67). Es folgen die Baugeschichte einschließlich jene der separat behandelten, in zwei Bauphasen errichteten Hochmeisterkapelle (68-117), die Beschreibung des monumentalen Nachfolgebaus des Palastes aus dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts (118-211) und eine Schilderung der Bauveränderungen in der nachordenszeitlichen Phase, von der polnischen Königsresidenz über den verheerenden Umbau zur Baumwollmanufaktur unter Friedrich dem Großen bis hin zu den Wiederaufbauperioden des 19. und 20. Jahrhunderts, bei denen er zwei bedeutsame denkmalpflegerische Fehltritte Steinbrechts vermerkt (die Formen des rekonstruierten Daches und des Ostabschlusses der Hochmeisterkapelle). Erst mit dem gesammelten Wissen um die Baugeschichte lässt sich das Raumprogramm erschließen, dessen Rekonstruktion Herrmann bravourös vornimmt (212-283).
Der Rekonstruktion der Farbigkeit und der Bauplastik des Palastes (284-325) folgt ein umfangreiches Kapitel, in dem der Autor eine bunte Palette potenzieller Vergleichsbeispiele ausbreitet (326-387): Herrscherresidenzen jener Zeit in Buda, Visegrád, Prag, Paris, Vincennes, die Dogen- und Papstpaläste in Venedig und Avignon, aber auch herrschaftliche Nebensitze und Adelsburgen - sei es in Lauf an der Pegnitz, im böhmischen Totschnik / Točník, ferner in Sens, Poitiers, Meaux, Dijon, Bolton, Warkworth, Bodiam, Herstmonceux oder Tattershall. Anschließend geht er zu möglichen Nachfolgebauten über (Marienburger Rathaus, Burg in Bütow / Bytów, Facettenpalais in Weliki Nowgorod oder der Gotische Pavillon am Krakauer Königsschloss).
Mehrere Kapitel widmen sich der Rekonstruktion des Palastbetriebs - seinen Bewohnern und Gästen, der herrschaftlichen Repräsentation und Ausübung der Verwaltung und schließlich dem Alltagsleben in der Residenz (418-497), die in zusammenfassender Betrachtung zur höfisch-ritterlichen Kultur in der Marienburg kulminiert (498-521). Dieser Hof ohne Frauen und mit einer kaum vorhandenen feudalen Rangordnung (soviel wir wissen, wurden die Kreuzfahrer als Gäste unabhängig von ihrer Position relativ gleichwertig empfangen) warb eher mit Errungenschaften der modernsten Technik wie der durchgehenden Fußbodenheizung und geschlossenen, nur punktuell miteinander verbundenen Raumsystemen für die Ordensritter und ihre Gäste sowie für die Dienerschaft. Dies unterstreicht die Vermischung des privaten und des repräsentativen Bereichs in der obersten Etage des Hochmeisterpalastes - kein Schloss von Rang um 1400 hätte sich so etwas erlaubt.
Herrmann grenzt die Datierung des jüngeren Palastes auf die Jahre 1380-1396 (388-417) ein. Da diese mit der eigens zu diesem Zweck beauftragten und von Alexander Konieczny durchgeführten dendrochronologischen Untersuchung (534-553) übereinstimmt, ist auf das Ergebnis sicherlich Verlass. Damit erweist sich die Argumentation der älteren Forschung, die partiell mit einem psychologischen 'turn' einherging - alte Menschen wie der Hochmeister Winfried von Kniprode würden mit etwa 70 Jahren kein anspruchsvolles Bauwerk beginnen - wohl als obsolet (394-395). Komplex gestaltet sich die Diskussion um jenen "genialen Baumeister" des Hochmeisterpalastes, in der die ältere Forschung Nikolaus von Fellenstein aus Koblenz zu erkennen glaubte, der aber nicht zuletzt durch eine kaum zu vereinbarende Heterogenität seiner vermeintlichen Bauvorhaben aus der potenziellen Liste der Schöpfer des Werkes ausscheidet und eher ein Vorsteher einer Art Baubehörde gewesen sein dürfte.
In einem akribischen Verfahren schlägt Herrmann einen gewissen Meister Johann als den entwerfenden Architekten vor, der in den Jahren 1395 und 1397 in einem Rechnungsbuch des Marienburger Konvents als Abnehmer von Baumaterial (gotländischer Kalkstein) und Malarbeiten aufgeführt wird. Seine dekorlose Architektursprache hätte ihren Ursprung in Böhmen; bis 1380 soll er beim Bau der Bischofsburg in Arensburg (estnisch: Kuressaare) auf der Insel Ösel (estnisch: Saaremaa) tätig gewesen sein. Nachdem der Bischof von Ösel-Wiek Heinrich III. 1380 von seinem eigenen Domkapitel gestürzt und anschließend ermordet worden war (408-409), soll jener Johann schließlich in die Zentrale des Ordensstaates berufen und mit der anspruchsvollen Bauaufgabe des Hochmeisterpalastes beauftragt worden sein.
Hier sind wir an einem Kritikpunkt des Buches angelangt, da diese These von Anfang an als ein zweifelfreies Faktum dargeboten wird. Die politischen Umstände des Transfers sind durchaus nachvollziehbar, auch weisen einige Formencharakteristika der livländischen Burg Analogien zur Marienburg auf - etwa die rechteckigen Fenster und Vorlagen bei Diensten oder das gratlose Gewölbe, darüber hinaus die reiche Verwendung des Kalksteins und der rote Anstrich der Innenräume. Um die These allerdings abzuschwächen: Vergeblich suchen wir in Estland nach Eigenschaften des Palastes, die seinem Prädikat als Meisterwerk entsprechen. Handelte es sich bei dem eher konventionellen Baumeister aus dem Baltikum tatsächlich um den Schöpfer der raffinierten (und singulären) Strebepfeiler, die im oberen Geschoss der Marienburg durch schmale filigrane oktogonale Säulen ersetzt wurden?
Als mögliche Antwort nennt hier der Autor den Einfluss des hehren Auftraggebers - des Hochmeisters, der dem Architekten die Freiheit kühner Lösungen einräumte (404). Es bleibt somit offen, ob es Herrmann tatsächlich gelungen ist, das Geheimnis eines Architekturwerkes des europäischen Rangens in Hinblick auf die Zuschreibung zu lüften oder ob wir es nur mit einer weiteren neuen Arbeitshypothese zu tun haben. Für eine weitere Diskussion anregend erscheint auch die These Herrmanns bezüglich der Existenz einer Doppelkapelle im Hochmeisterpalast, die ihm zufolge als Vorbild für die bekannte Lösung am Marienburger Hochschloss mit der Schlosskirche und der St.-Annen-Kapelle gedient hätte; hier meldete sich Sławomir Jóźwiak mit der Kritik an der Leseart der diesbezüglichen Schriftquellen. [3] Dafur bewendet Jarosław Jarzewicz, dass der Autor vielleicht zu voreilig sämtliche westeuropäischen Analogien, wie Karls V. Logis du Roi auf der Pariser Île de la Cité, weg wirft; sie könnten zumindest im ideellen Sinne ein Vorbild sein. [4]
All dies schmälert nur im geringen Maße den Wert dieses monumentalen Werks, das von mehreren namhaften Kennern der Epoche (so Jarosław Jarzewicz oder Werner Paravicini) mit Enthusiasmus begrüßt wurde. Diesen teilt - mit kleinen Einschränkungen - ebenfalls der Autor der vorliegenden Rezension. Zweifelsohne wird das Buch zu einer unersetzbaren Grundlage für Generationen von kommenden Forscherinnen und Forschern, zur conditio sine qua non jeglicher Beschäftigung mit einem der europäischen Höhepunkte der Spätgotik.
Anmerkungen:
[1] Clasen Karl Heinz: Der Hochmeisterpalast der Marienburg, Königsberg 1924.
[2] Christofer Herrmann: Mittelalterliche Architektur im Preussenland, Petersberg 2007.
[3] Jóźwiak Sławomir: Uwagi w kontekście najnowszych badań nad malborską siedzibą wielkich mistrzów w średniowieczu na marginesie pracy Christofera Herrmanna, in: Zapiski Historyczne 84 (2019), Nr. 2, 253-274.
[4] Jarosław Jarzewicz: Rez. Christofer Herrmann: Der Hochmeisterpalast auf der Marienburg [...], in: Biuletyn Historii Sztuki 81 (2019), 148-154.
Tomasz Torbus