Christoph Nonn: 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des Deutschen Kaiserreichs 1871-1918, München: C.H.Beck 2020, 687 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-75569-9, EUR 34,00
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Man stutzt über den Titel "12 Tage und ein halbes Jahrhundert". So lange währte das Kaiserreich doch gar nicht! Der Text auf der Rückseite des Einbandes gibt Auskunft: Ausgehend von 12 Tagen wird die Geschichte eines halben Jahrhunderts erzählt. Christoph Nonn hat "erzählt" wohlwissend gewählt. Ihm geht es tatsächlich in der vollen Wortbedeutung um Geschichtserzählungen.
Nonn behandelt zentral 12 einzelne Tage, die den Höhepunkt in einer Geschichtserzählung darstellen. Dieser Höhepunkt ist von Nonn literarisch gestaltet, erzählerisch breit dargestellt und dramaturgisch komponiert. Nach dem Höhepunkt folgen dann historische Einbettungen des Geschehens: Das Vorher und das Nachher, die mitunter tief-liegenden Ursachen und die nicht selten ebenfalls weitreichenden Folgen. Und meistens bezieht er Position zu geschichtswissenschaftlichen Kontroversen, aber so, dass nur der kundige Leser weiß, dass Nonn zu strittigen Fragen eine Position bezogen und verteidigt hat, zu denen es freilich auch andere - ungenannte - Positionen gibt. Damit sind die Kapitel nicht nur Geschichtserzählungen, sondern auch Essays, die in der Regel auch nicht kontrovers angelegt sind.
Wer nun in das Inhaltsverzeichnis schaut, um zu erfahren, um welche Erzählungen es sich denn handelt, der wird erst einmal enttäuscht. Alle Kapitelüberschriften folgen dem gleichen Schema: Ortsangabe und Zeitpunkt, z.B. "Leipzig, 2. Juni 1878". Auch hier weiß nur der Kundige: Das war doch der Tag des zweiten Attentats auf Kaiser Wilhelm I.! Jenes Attentats, das Bismarck so geschickt instrumentalisierte, um seine Sozialistengesetze durch den Reichstag zu bringen, der diese nach dem ersten Attentat noch abgelehnt hat. Das Kapitel beginnt, wie es sich für jede gute Erzählung gehört - gleich ob literarisch oder historisch - sehr individualisiert, wie nämlich Julie Bebel unter Schock stand, als sie am Abend nach einem Spaziergang mit ihrem Mann von dieser Nachricht erfuhr. Von diesem Schock ausgehend erfahren wir dann, was für Folgen diese Nachricht zeitigte, zuerst für Julie, dann für ihren Mann, August Bebel, und die Sozialdemokratie. Nonn holt dabei weit aus und beschreibt, wie sich die Sozialdemokratie von den Anfängen entwickelt und was dies alles für die parlamentarische Demokratie in Deutschland bis 1930 bedeutet hat. Hier bezieht Nonn dann Position zur These von der Unfähigkeit deutscher Parteien, in schwierigen Zeiten Regierungsverantwortung zu übernehmen, weil sie im Kaiserreich nie Regierungsverantwortung getragen haben.
Und gar nicht nebenbei wird in dem Unterkapitel "Die Frau und der Sozialismus" in die Erzählung breit eingeflochten, wie sich Julie Bebel als Frau von ihrer Geschlechterrolle als Hausfrau und Mutter emanzipiert hat. Denn sie übernahm wichtige wirtschaftliche und politische Funktionen, die ihr Mann unter der Verfolgung der Sozialistengesetze nicht mehr ausüben konnte. Der kleine Belagerungszustand wurde über Leipzig verhängt und der bedeutete Ortsverbot für August Bebel mit allen politisch gewollten Folgen für die Parteiarbeit und wirtschaftlich gewollten Folgen für die ökonomische Existenz der Bebels. August Bebel war Kleinunternehmer. Julie Bebel trat jetzt in die Rolle ihres Mannes, führte gleichermaßen die Parteiarbeit und den eigenen Betrieb weiter und zog als Mutter daheim die Tochter auf. Obendrein diskutierte sie in sozialdemokratischen Männerrunden politisch mit, auch dies für eine Frau im 19. Jahrhundert noch nicht selbstverständlich.
Dieses Kapitel mag für alle anderen Kapitel stehen, wie Nonn Geschichte erzählt. Eben von einem Tag ausgehend mit vielen Einzelheiten und historischen Einbettungen und manchmal wirklich weitgehenden Erweiterungen. Insgesamt wird auf diese Weise ein wichtiges Segment der Kaiserreichsgeschichte abgedeckt. Die anderen Kapitel behandeln dann ähnlich andere Segmente, so dass sich ein mehr oder weniger vollständiges, aus Einzelerzählungen zusammengesetztes Geschichtsbild des Deutschen Kaiserreichs ergibt.
Und so erfahren wir etwas über "Versailles, 18. Januar 1871", über die Reichsgründung aus der Perspektive des Historienmalers Anton von Werner, dessen berühmtes Gemälde von der Proklamation des Kaiserreiches auf dem Buchumschlag abgebildet ist.
Dann über "Marpingen, 3. Juli 1876", über die Marienerscheinungen dort, die zwar von der katholischen Kirche nie anerkannt wurden, aber die nichtsdestoweniger zu einer katholischen Bewegung führten, ähnlich wie die Massenbewegung zum "Trierer Rock" oder gar Lourdes. Nonn entwickelt daran die religiöse Hochstimmung und die politische Bedeutung des Katholizismus, spricht über den Kulturkampf, aber auch darüber, welcher Art das Sozialmilieu in dem kleinen Dorf Marpingen war, in dem solche Marienerscheinungen gediehen.
Oder "Konitz (Westpreußen), 11. März 1900". Teile der grausam zerstückelten Leiche eines für beide Geschlechter attraktiven jungen Mannes werden gefunden. Die kriminalistischen Untersuchungen und Verhöre werden so spannend mit allem Klatsch und Tratsch im Detail geschildert, dass man als Leser am Schluss enttäuscht ist zu erfahren, dass der Täter nie ermittelt wurde. Aber in Jahrhunderte langer Ritualmord-Tradition wurden Juden dieses Mordes verdächtigt. Und dann beschreibt Nonn auch, welcher Art die Denunzianten und Verfolger waren, aus welchem Milieu sie stammten und wie leicht Vorurteile aktiviert werden konnten. Ähnlich wie bei Julie Bebel und in Marpingen nehmen auch hier Alltagsgeschichte und Sozialmilieuschilderungen einen breiten Raum ein.
Das Buch endet mit "München, 7. November 1918". Die bayerische Monarchie wird gestürzt. Das ist der Tag, der bei Nonn für die Revolution in Deutschland steht, und nicht der 9. November in Berlin. Eine andere Perspektive zur Revolution 1918, die viele "Sehepunkte" zulässt - auch eine nicht preußisch Zentrierte.
Zum Schluss bleibt die Frage, für wen das Buch geschrieben ist. Diese Frage ist schwer zu beantworten. Es liest sich leicht, so dass es für ein breites Publikum geeignet erscheint. Einzelne Kapitel, z.B. über Konitz, sind es auch. Aber viele Ausführungen können nur von dem verstanden werden, der über ein breites historisches Wissen verfügt. Es ist eher an ein Fachpublikum gerichtet, das auf eine gefällige Weise ein inhaltlich und methodisch ganz anderes Buch über das Kaiserreich lesen möchte, das im Übrigen wissenschaftlich immer abgesichert ist (fast 30 Seiten nur Belegstellen).
Ein ganz anderes Buch, ein gleichermaßen, literarisch-erzählendes und historisch-analysierendes Werk über die große Geschichte und den kleinen Alltag und wie beides miteinander verwoben ist. Und genau dies ist das Alleinstellungsmerkmal aller zwölf Erzählungen über das Kaiserreich von Christoph Nonn. Der Rezensent hat es mit wissenschaftlichem Vergnügen gelesen.
Manfred Hanisch